Wir fliegen zum Mond und bald
zum Mars.
Nichts ist so unerreichbar wie
der vergangene Tag.
La senteur des œillets d‘Inde
Roman
NICOLÀ TÖLCKE
Lektorat: Wolfgang Holtz
Lektorat und Korrektorat: Sandra Schmidt; www.text-theke.com
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DANIELLE
Grußwort
Es gibt viele Romane auf der Welt, auch gute Romane, die in Vergessenheit geraten, weil die Personen die falschen Namen tragen. In »Der Duft der indischen Nelke« tragen die Heldinnen und Helden wunderbare und einprägsame Namen. Ich tauchte ein, lebte im Licht dieser Geschichte, die mir fingerdick unter die Haut geht. Berlin, wie ich es auch kennenlernte. Die Straßen, die Peep-Shows und der Fernsehturm mit dem Sonnenkreuz, das blendet, aber nicht erblinden lässt, während in seinem Innenleben die Szenen und Fotografien von einer gewaltigen Lust berichten.
São Paulo, Juni 2014, Ignácio de Loyola Brandão
Wer sein Glück nur in der Ferne findet
Der muss einfach durch durch viele Frau‘n
Getextet von Werner Karma
Gesungen von Anna Loos
Ein Frühlingstag und meine Mutter hat Lust auf einen Spaziergang entlang des Teltowkanals. Vor der Brücke der Krahmerstraße befindet sich ein Wildgehege mit Hirschen und Rehen. So stiefeln wir los und haben als Proviant für die Vierbeiner ein paar alte Stücke hartes Brot im Gepäck.
Ein verführerischer Blütenduft liegt in der Luft, als wir an dem waldartigen Gelände ankommen. Links schnattern die Enten im Kanalwasser und rechts hinter dem mannshohen Jägerzaun mümmeln der stolze weiße Hirsch und sein Harem.
Mutter will weiterlaufen. Es soll bis zur Bäkebrücke gehen. Dort müssen wir links abbiegen, um auf der Metallkonstruktion hinüber auf die andere Kanalseite zu gelangen.
Schon einige Male habe ich ihn gesehen; eher von weitem, diesen Flügelmann, der oben auf einem Sockel steht und seine Arme wie ein flugbereiter Adler ausstreckt. Mutter ist unerbittlich. Ganz nah vor seinem klobigen Podest kommen wir zum Stehen. Ich habe Angst! Ob der sich gleich auf mich stürzen wird?
„Komm, Hubertlein! Bück dich mal nach unten und riech mal, wie die Blumen duften.“
Schnell noch mal ein kurzer Blick nach oben. Er steht ganz ruhig da. Ich gehe auf die Knie und schon in der Bewegung fängt mich der Duft ein. Als hätten diese gelben, kleinen Sonnen eine Anziehungskraft krieche ich mit meiner Nase in sie hinein. Wie benommen ist mir plötzlich, als schwebte ich nach oben. Mich überströmt ein Glücksempfinden, das sich mit einer Gänsehaut über meinen ganzen Körper verteilt. Doch auch diese dunkle Kreatur da oben hoch über mir will, dass ich sie beachte. Im Glücksgefühl des Duftes erzittere ich vor dem Flügelmann. Ich starre ihn an, paralysiert bin ich wie ein Reh vor nächtlichen Autoscheinwerfern.
„Bald werde ich dich mitnehmen auf eine Reise, von der es kein Wiederkommen gibt!“, flüstert er mir zu.
„Hubert, komm!“, unterbricht ihn meine Mutter, „das sind Studentenblumen. Aber wir wollten doch noch ins Café dort und ein Eis essen.“
Von dem Moment an ist mir klar, dass ich diesen Mann mit seinen todbringenden Schwingen nie wieder anschauen werde, mich die Magie des Duftes der Tagetes aber oft begleiten wird.
Es ist ein besonderer Kick wenn der Aufzug diese zweihundert Meter in sechs Meter pro Sekunde bis zur Aussichtsetage
hochschießt. Es ist beruhigend, so eingeschlossen in diesem engen, mobilen Raum ohne Weitblick zu sein. Sehr beruhigend, wenn man unter Höhenangst leidet. In der Seilbahn, die von Fräkmüntegg die 647 Meter, auch in sechs Meter pro Sekunde, fast senkrecht in fünf Minuten zum Pilatus hochraste, war das damals anders. Die ganze Fahrt lang wagte ich keinen Blick auf das immer winziger werdende Luzern zu werfen.
Ich hielt meinen Blick am Seilbahnfahrer fest und sagte mir nur, dass dieser ältere, keinesfalls draufgängerisch wirkende Herr in seiner blauen Uniform nur den ganzen Tag nichts weiter machte, als an ein paar Stahlseilen hängend durch die Schweizer Landschaft zu schweben.
Die Fahrt durch den Berliner Untergrund ist heute sehr unangenehm. Die U-Bahn muss zwischen zwei Bahnhöfen eine Zwangspause einlegen. Fast eine Stunde dauert der unfreiwillige Halt dieser Linie schon, die als Ziel an ihrem Triebwagen Pankow zu stehen hat. Erfreulicherweise verlangt das Verspeisen mitgebrachter Döner nicht annähernd so lange. Wir hängen zwischen Hausvogteiplatz und Spittelmarkt fest.
Ich schlage das Taschenbuch auf, das ich mir gestern in der Bibliothek ausgeliehen habe. Nesnesitelná Lehkost Bytí, so der Titel des Originals aus dem Jahr 1984. Ich blättere willkürlich, um mir einen Eindruck zu verschaffen, und lande auf der Seite 61.
Unter der Bezifferung 19. fange ich an zu lesen. Dank des unfreiwilligen Zwischenstopps habe ich ja Zeit:
« Ich möchte Dich in meinem Atelier lieben wie auf einer Bühne. Ringsherum stehen Leute, die keinen Schritt näher kommen dürfen. Aber sie können die Augen nicht von uns losreißen… »
Im Laufe der Zeit verlor dieses Bild seine ursprüngliche Grausamkeit und begann, sie zu erregen. Manchmal, während der Liebe, rief sie Tomas diese Situation flüsternd in Erinnerung.
Sie sagte sich, dass es einen Ausweg gab, um der Verdammung zu entrinnen, die sie in Tomas‘ Untreue sah: er sollte sie mitnehmen! Mitnehmen zu seinen Freundinnen! Vielleicht war das der Weg, ihren Körper wieder zum ersten und einzigen zu machen. Ihr Körper würde zu einem Alter Ego, zu seinem Adjutanten und Assistenten.
« Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen… », flüsterte sie ihm zu, wenn sie aneinandergeschmiegt dalagen.
Ein Typ mit Klampfe reißt mich aus dem Text. Beziehungsweise eine blonde Polin, die keine Lust auf das 31. Mal The Times They Are A-Changin hat. Der hat fast so unmelodisch gekreischt, wie jener Straßensänger vor C&A in der Schloßstraße in Steglitz, der auf seinem Klappstuhl sitzend bei jedem Wetter Kinder- und Volkslieder so bar jeder Musikalität vorträgt, dass ich ihn schon als Attraktion mit der Videokamera aufnehmen wollte.
Die Polin gibt dem Musikanten schließlich einen 5-Euro-Schein in die Hand und bittet ihn, endlich still zu sein. Er tut ihr den Gefallen.
Ich kann weiter lesen:
Sie wollte mit ihm zu einem hermaphroditischen Wesen verschmelzen, und die Körper der anderen Frauen sollten zu ihrem gemeinsamen Spielzeug werden…
Zum Abschluss der Nachrichten noch ein Verkehrshinweis: Auf Grund eines schwerwiegenden Zwischfalls auf der U-Bahn-Linie 2 ist der Betrieb dieser Linie zur Zeit eingestellt. Es wurde ein Schienenersatzverkehr eingerichtet. Es gab mehrere Schwerverletzte.
Im Westen hängen dunkelgraue Wolken über der Stadt. Die Sonne zieht Wasser. Die Siegessäule ist nur zu erahnen. Keine Grillschwaden wabern aus dem Tiergarten. Die Aussichtskugel des Turms dreht sich nicht.