Selbst die Beleuchtung schläft.
Auch vom Heizkraftwerk Reuter, drüben in Siemensstadt, auch von diesem gewaltigen, weißen Kegelschornstein steigt heute rein gar nichts in den Himmel.
Die Stimme, denke ich, die lässt mich nicht los. Die Stimme der blonden, jungen Polin in der U-Bahn. Dieses spezielle Timbre? Wo habe ich das schon mal gehört? Hätte mich der Text Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen…, hätten mich diese Worte nicht so beschäftigt, ich hätte sie vielleicht erkannt. Möglicherweise hat mich auch das kleine Mädchen an ihrer Seite irritiert. Wer weiß?
Auch waren meine Gedanken schon hier oben. Sie waren mit vielen Fragezeichen versehen. Was würde mich erwarten? Hatte ich nicht im Traum diese seltsame Einladung erhalten? War das überhaupt im Traum? Auf jeden Fall war da diese düstere Stimme, die so erklang, als breitete sie sich vom Mittelpunkt meines Kopfes an die Peripherie meines Schädels hin aus: Kommen Sie in den Fernsehturm. Ich erwarte Sie. Es ist sehr wichtig. Dieses Erleben lässt mich immer noch erschaudern. Dieser gespenstische Tonfall, jemand wie Darth Vader in meinem Gehirn, das hatte mich elektrisiert und paralysiert zugleich.
Es rauscht ein wenig in der Klimaanlage. Ich beschließe noch einmal einen Rundgang im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Hinweis, dass hier oben irgendjemand ist. An „Tisch 11“ zeigt sich in der Ferne das Olympiastadion. Ich setze mich, nehme einen Zahnstocher und versuche, mir damit den Dreck unter den Fingernägeln zu entfernen.
Und plötzlich ist er da! Er sitzt mir gegenüber und sieht mich hemmungslos, völlig ungeniert an. Sein Gesicht wirkt zombiehaft, aschfahl, ein wenig wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Mir ist, als ob seine Augen mich durchleuchten.
Ein kurzes Beben lässt die Maiglöckchen in der Vase zittern.
„Haben Sie keinen Hunger? Die Gulaschsuppe hier oben ist gar nicht so übel.“ Darth Vaders Stimmbänder haben sich mit denen von Elisabeth Flickenschild gepaart!
„Hier ist doch niemand. Wer sollte mir denn eine Gulaschsuppe servieren?“ Ich stecke den Zahnstocher mit der etwas grauen Spitze in meine Jackentasche.
„Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung folgen konnten. Ich schlage vor, wir fangen gleich an.“ Er nimmt ein Diktiergerät und legt es aufnahmebereit auf den Tisch.
Die Wolken haben sich westwärts zu einem fast schwarzen Gebirge formiert.
Ich versuche mich zu konzentrieren. Was will er von mir? Seine Fragen scheinen wortlos in mein Bewusstsein zu drängen.
„Wie alles anfing, wollen Sie wissen? Meine Eltern kamen beide aus dürftigen Verhältnissen. Der Vater meiner Mutter starb, als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter war Schneiderin und dann kam Hitler und dann der Krieg. Die Eltern meines Vaters hatten sich scheiden lassen. Seine Mutter war viermal verheiratet. Davon zweimal mit demselben Mann. Sie war Arbeiterin beim Heinrich-Bauer-Verlag, wo sie auch ihren zweimaligen Mann kennengelernt hatte. Mein Großvater war Vertreter bei der Barmer Ersatzkasse und verstarb schon mit 59 Jahren an Lungenkrebs. – Mein Mund ist etwas trocken. Ich geh‘ einfach mal und sehe nach, ob ich was zu trinken finde.“
Er drückt auf das Diktiergerät.
Die Küche ist nicht sonderlich aufgeräumt. Hinten schließt sich eine Art Getränkeraum an. Glücklicherweise habe ich meine kleine Taschenlampe dabei, sonst könnte ich hier so leicht nichts finden. Ich schnappe mir zwei kleine Cola und überlege, ob er auch etwas möchte.
„Habe ich das mit den kleinen Verhältnissen zufriedenstellend erklärt? Ich meine, mein Vater hat sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Virginia zum Dentisten hochgearbeitet und profitierte dann für sich und seine Familie am deutschen Nachkriegswirtschaftswunder. Er hat ordentlich malocht in seiner Zahnarztpraxis, die er in der Schöneberger Arbeitergegend von einem Dr. Gutmann abgekauft hatte.
Mit Füllungen und Prothetik, die damals noch von den Krankenkassen erstattet wurden, brachte er es zum vierstöckigen Eigenheim.“
„Mich interessiert Ihre Gefühlsebene.“ Er schaut mich an, aber tut er das wirklich?
„Wo soll ich da anfangen? Meine kleinen Fluchten in den Schulferien zu den Großeltern in die Lüneburger Heide?“
Aus den Lautsprechern ertönt plötzlich der blonde Hans Albers mit seiner Reeperbahn nachts um halb eins.
„Die Mutter meines Vaters hatte sich zusammen mit ihrem dritten, beziehungsweise vierten Mann ein kleines Wochenendhäuschen im Wald bei Buchholz in der Nordheide zusammengespart. Dort lebten die beiden und verbrachten ihren Lebensabend eine Eisenbahnstunde entfernt von ihrer Heimat auf Sankt Pauli.“
„Und Ihr Gefühl dabei? Wie war das so weit weg von Berlin, auf dem norddeutschen Land, in der Lüneburger Heide?“
„Meine eindringlichste Erinnerung findet morgens in jenem kalten Schlafzimmer statt. Die Sonnenstrahlen kamen wie am Lineal gezogen durchs verschwitzte Fenster. Davor schwebten hunderte kleiner, winziger Staubteilchen. Oft wachte ich mit diesem Eindruck auf und lag in der Besucherritze, im großen Doppelbett meiner Großeltern. Wo sie bloß herkamen, diese vielen kleinen Partikelchen?
Einige davon waren sogar ganz schön stabil. Und so entdeckte ich von Zeit zu Zeit ein ganz spezielles, das quer vor dem Fenster entlangsegelte. Eine meiner Mitschülerinnen lag dann darauf. Ich konnte sie immer genau erkennen. Ihre Staubpartikelchen segelten mit ihnen direkt in ihre Zimmer, die sie bei mir in einem speziellen Häuschen mit vier Räumen hatten. In jedem Raum wohnte ein Mädchen aus meiner Klasse. Bärbel war oft die Letzte, die eintraf. Sie war die Blonde mit dem Charleston-Haarschnitt und den braunen Augen. Außerdem wohnten darin noch die schwarzhaarige Rita, die strohblonde Elisabeth und der Rotschopf Karin. Die Mädels waren in dem Gebäude eingesperrt. Manchmal hörte ich sie zetern, dass sie nach Hause wollten. Doch das ging nicht, sie gehörten ja mir.
Ich konnte mir immer abwechselnd eine holen. Das war ganz einfach. Ich griff nur von oben in eines der Zimmer und schwupp war diejenige still und ließ alles mit sich geschehen. An jenem Morgen, an den ich gerade denke, hatte ich Lust auf Bärbel. Als sie auf meiner Hand saß, entspannte sie sich und kuschelte sich an meinen Daumen. Langsam setzte ich sie neben mich ab, damit sie ihre normale Körpergröße erreichen konnte. Ihr grünschwarzes Kleid war verlockend kurz und so schob ich es weiter nach oben, damit das Spannendste von ihr zum Vorschein kommen konnte. Sie hatte eine weiße Unterhose mit kleinen gelben Blümchen an. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das Studentenblumen waren, die man vornehm auch Tagetes nennen darf, und dass deren Duft mein Leben verzaubern würde! Der kleine Venushügel unter dem Höschen roch ein bisschen nach ..., ja, wonach wohl?
Dann streichelte ich sie und sie schloss die Augen. Doch ich hatte es nicht bemerkt. Die Schlafzimmertür stand sperrangelweit offen und meine Oma lud mich zum Frühstück ein.
Aus dem Radio kam die Stimme eines Nachrichtensprechers vom NDR:
Das Konklave der Kardinäle wählte im fünften Wahlgang den italienischen Bischof Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini zum neuen Papst. Er gibt sich den Namen Papst Paul VI. Die Namen der Mainzelmännchen, der Maskottchen des Zweiten Deutschen Fernsehens, sind Anton, Berti, Conni, Det, Edi und Fritzchen.
Mein Gegenüber muss husten. Ein trockener, sicher chronischer Husten.
„Haben Sie diese Art Allmachtsfantasien öfter gehabt?“
„Ich glaube ja. Früher waren das einfach Wunschvorstellungen. Später eher Fluchtpunkte, wenn der Alltag zu sehr nervte.“
Die Lautsprecher säuseln The Beat Goes On von Sunny and Cher.
„Wenn Sie zurückblicken. Womit fing es eigentlich an?“
Er präzisiert es nicht, aber mir ist klar, worauf er hinauswill.
„Nach der zweiten Phimose-Operation. Es war meine erste Taxifahrt, an die ich mich erinnern kann. Die Praxis des Chirurgen Bethke war am Tempelhofer Damm. Ich hatte auf dem OP-Tisch gelegen. Und mir war eine Maske übers Gesicht gestülpt worden. Eine Maske aus einem Metallgittergeflecht. Und gleich hatte es angefangen.