Ava Patell

Der Kronzeuge


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ja, das ist nun einmal das Konzept.« Er zitierte aus einer der vielen Broschüren, die überall verteilt lagen: »Unser Pflegepersonal ist Tag und Nacht für unsere Klienten da.«

      Veronica lachte und es schien ihr schon besser zu gehen. An Mrs. Abernathy hatte sich Aiden auch erst gewöhnen müssen. Die Alte war eine Nummer für sich. Er wusste, es würde in seinem Job immer verschrobene und... besondere Klienten geben, aber Mrs. Abernathy hatte die Latte wieder ein Stück höher gelegt. »Ich geh dann. Bis in ein paar Stunden.«

      »Ja. Bis dann.«

      Vor der Schiebetür zog Aiden den Reißverschluss seiner Jacke nach oben, um sich gegen die morgendliche Kälte zu schützen. Inzwischen zeigte seine Armbanduhr 5:37 Uhr an. Auch jetzt fiel sein Blick wieder auf den Mini-Ahorn und er fragte sich, warum die Hausleitung sich darauf eingelassen hatte, so einen Winzling zu kaufen. Der machte wirklich so gar nichts her und das, obwohl doch definitiv genügend finanzielle Mittel da waren. Hinter dem Tor warf er einen Blick zurück, schüttelte den Kopf und zog dann sein Handy aus der Hosentasche, um seinen besten Freunden zu schreiben. Sie hatten eine Gruppe in einem dieser Handy-Nachrichtendienste und tauschten sich nur zu gern über ihre Leben aus.

      ›Mrs. A. ist mal wieder nicht gestorben‹ , schrieb er und fügte einen Tränen lachenden Smiley hinzu. Die anderen würden seine Nachricht sicher erst am späteren Morgen lesen, aber das Schreiben hielt ihn wach. Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit und wie immer nahm Aiden die Abkürzung, die er inzwischen gut kannte - zu jeder Tages- und Nachtzeit. Heute aber sollte sich ihm dieser Weg noch eindringlicher einprägen, als er es je getan hatte.

      Er war beinahe am Ende der Gasse angelangt, hatte gerade den Chatverlauf mit seiner Schwester aufgerufen, um ihr etwas zu schreiben, als ihn ein Geräusch aufblicken ließ. Ein Rascheln von Kleidung, gefolgt von einem Röcheln. Sehen konnte Aiden jedoch nichts. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief er weiter, langsamer und vorsichtiger. Die Geräusche veranlassten ihn zum Zehenspitzengang, ohne dass er genau sagen konnte, warum. Je näher er den Häuserecken kam, desto schneller schlug sein Herz. Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf, ohne dass er die Ursache dafür erkannte. Die Kälte war es in diesem Moment nicht.

      Und dann, immer noch verborgen in der engen Gasse im Schatten der Häuser, sah er auch, was der Grund für das erstickte Röcheln war. Es ließ ihn schlagartig wach werden, als hätte man ihm einen Eimer mit eiskalten Wasser über den Kopf geschüttet. Nur ein paar Meter von ihm entfernt, am Ende der Gasse standen zwei Männer. Der größere, breitere hielt den Anderen im Schwitzkasten, hatte ihn vom Boden hochgehoben. Von ihm stammte das Röcheln. Ein paar gemurmelte, eindringliche Worte, ohne dass Aiden hätte sagen können, was der Inhalt des Gesagten war. Dann sah er Metall aufblitzen und er hielt augenblicklich die Luft an, erstarrte. Unsicher und verängstigt.

      Was konnte er tun? Sein Gehirn schien nicht mehr richtig zu funktionieren, schien keine Befehle entgegenzunehmen. Er wollte rennen, konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien, bekam jedoch die Lippen nicht auf. Ein sich näherndes Auto riss ihn aus seiner Bewegungslosigkeit. Wie in Trance hob er das Handy hoch, beinahe fremdgesteuert, öffnete so leise wie möglich die Kamera-App, duckte sich hinter einen Müllcontainer und jeder Knopfdruck dröhnte unnatürlich laut in seinen Ohren. Er musste leise handeln! Ein Foto zu schießen fiel also aus seinen Optionen aus und so drückte er auf die Videokamera. Genau in diesem Moment fiel ein heller kleiner Beutel aus der Jackentasche des großen Mannes. Plastik. Wie zum Einfrieren, erinnerte ihn sein im Moment komplett überfordertes Gehirn. Selbst im Schatten sah Aiden den größeren Mann grinsen und beinahe war es, als könnte er die Augen leuchten sehen. Glimmen. Als gehörten sie zu etwas Dämonischem, Teuflischem.

      Mit einer schnellen Bewegung zog der Fremde das große Messer mit der glatten Klinge schnell an der Kehle des kleineren Mannes vorbei und der sank zu Boden, riss die Hände hoch und versuchte, das Blut in seinem Körper zu halten, welches nun stetig aus ihm heraus floss und sein Leben mitnahm. Immer noch war das Röcheln zu hören, diesmal jedoch feuchter, verzweifelter und dann beleuchteten Scheinwerfer die Szene. Aiden war sich sicher, dieses Geräusch, das der Sterbende machte, niemals in seinem Leben vergessen zu können. Es hatte nichts mit dem Röcheln gemein, was man im Fernsehen hörte, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Es war obszöner, fast pervers und es ließ ihm die Galle in die Kehle steigen. Seine Finger zitterten, während er die Kamera noch immer auf die Szene richtete, die sich vor ihm abspielte.

      Das Auto gehörte offensichtlich zu dem Mann, der gerade einen anderen umgebracht hatte. Umgebracht! Vor seinen Augen! Nur Aidens bisheriger Erfahrung mit dem Tod, mit sterbenden Menschen und deren Anblick war es zu verdanken, dass er nicht nach Luft japste und ohnmächtig zusammenbrach oder eine andere Dummheit machte, die ihn verraten könnte. Stattdessen wich er noch weiter in den Schatten zurück, denn die Scheinwerfer des Autos vertrieben die tiefen Schatten zwischen den Häusern. Der Mörder sprang in das Auto und Aiden riss das Handy nach unten, um sich nicht zu verraten, war sich aber nicht sicher, nicht doch gesehen worden zu sein. Mit beinahe quietschenden Reifen fuhr der Wagen an. Er war nachtschwarz, groß und ohne Kennzeichen, das speicherte Aiden noch ab, dann rannte er los. Wenn ihn die beiden Männer - oder waren es noch mehr?! - gesehen hatten, dann musste er schnell sein! War sein Gehirn eben noch im Schockzustand gefangen gewesen, startete es jetzt mit erschreckender Klarheit neu. Er musste hier weg. Dringend! Irgendwohin, wo er sicher war. Er rannte zurück, rannte so schnell er konnte. Vor Schreck machte er einen kleinen Sprung, als nicht weit entfernt Reifen quietschten.

      Panisch hechtete er durch die Straßen, versuchte sich zu erinnern, wo das nächste Polizeirevier war. Er wusste es! Sie hatten die Adresse im Altersheim gespeichert, denn es kam nicht selten vor, dass sich die älteren Herrschaften in die Haare bekamen und sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigten. Das Alter machte nun einmal wunderlich. Dann fiel ihm die Adresse ein und er schlug einen Haken, wagte nun doch einen Blick über seine Schulter. Atem und Herz rasten im gleichen Rhythmus, als er endlich, mit feuchtem Haar und verschwitztem Shirt unter der Jacke, in der richtigen Straße ankam. Licht, Straßenlaternen und ein paar vorbeifahrende Autos. Der beginnende morgendliche Berufsverkehr. Da kam das Revier in Sicht und er rannte auf die rettenden Türen zu. Noch zwei Stufen nach oben! Mit der freien Hand drückte er die Schwingtür auf, stolperte hinein, die Augen weit aufgerissen und hinter ihm knarrte die Tür als sie zurück schwang.

      »Hilfe!«, schrie er. Das Handy wog schwer in seiner rechten Hand, schwer von all der Last, die es beherbergte. »Ich brauche Hilfe!«

      ***

      Das Leben eines Polizisten war auch nicht mehr das, was es mal war, dachte Detective Leutnant Sam Wilkins bei sich. Früher war das Aroma von Zigaretten und alten Möbeln durch die Räumlichkeiten gezogen. Alles was er heute noch wahrnehmen konnte, war der entfernte Duft von entkoffeiniertem Kaffee. Plörre, die in seinen Augen nicht einmal zum Blumengießen geeignet war, geschweige denn zum Trinken. Die Detectives nuckelten heutzutage nicht mehr an filterlosen Zigaretten, um ihren Stress abzubauen, sondern an Paprikastreifen mit Hummus-Dip und ihre Schreibtische waren nach dem Feng-Shui-Prinzip aufgeräumt und dekoriert. Dekoration auf einem Polizistenschreibtisch! Noch vor 10 Jahren wäre das ein Anlass gewesen, den Kollegen, der so etwas hatte, mit Sekundenkleber an seinen Stuhl zu heften. Heute ernteten diese Leute Beifall und mussten beinahe schon Kurse geben, damit es die weniger Informierten ihnen nachmachen konnten. Auch das Tippen der Schreibmaschinen war schon lange abgelöst worden und jetzt zu der sehr frühen Stunde hörte man im Revier nur noch das entfernte und gedämpfte Klappern einer geräuschgedämpften Computertastatur. Es war zum Kotzen. Wo war der Flair geblieben?

      Er hob seine Tasse an die Lippen und nippte an seinem viel zu heißen, nach türkischer Art aufgebrühten Kaffee. Stark. Und mit einer Menge ungesundem Koffein. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber seiner Frau zuliebe hatte er das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben. Er bereute es jeden Tag aufs Neue, aber er liebte Rebecca und musste sich oft eingestehen, dass sie das Beste war, was ihm je in seinem Leben passiert war. Ohne sie hätte er auch kein Kind. Diesen aufgeweckten kleinen Jungen Namens Julien mit den witzigen kleinen Löckchen, der auf seinen noch unsicheren Füßen Sams Haus am Rande der Stadt unsicher machte. Erneut nahm er einen Schluck von dem Kaffee und sah auf die Eingangstür des Reviers. Es war Dienstagmorgen. Ruhig. Kein Wochenende. Und er fragte sich, warum er zum Geier überhaupt noch