Ava Patell

Der Kronzeuge


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war sich sicher, dass das noch einige Zeit lang so bleiben würde. Zumindest traute er inzwischen wieder seinen Knien, daher erhob er sich und ging ein paar Schritte im Raum auf und ab.

      Als Sam Wilkins zurück in den Raum kam, war eine gute halbe Stunde vergangen. Das Foto hielt er noch immer in der Hand als er die Tür hinter sich schloss. Beinahe schien es so als hätte der junge Mann wieder etwas Farbe im Gesicht.

      »Nun, Mr. Miller. Wir müssen noch ein paar Dinge besprechen.« Er setzte sich wieder an den Tisch und überließ es seinem Gegenüber, es ihm gleich zu tun oder stehenzubleiben.

      »Sie wollten noch meine persönlichen Daten.« Die Blisterpackung lag neben dem Pappbecher auf dem Tisch. Jedes Geräusch erschien Aiden unnatürlich laut, sowohl die Stimme des Detectives als auch seine eigene oder das Scharren der Stuhlbeine.

      Sam nickte und griff nach dem Protokoll der Befragung und einem Stift, drehte die Rückseite der Zettel zu sich.

      »Haben Sie Familie?«

      »Nun, keine Kinder, falls Sie das meinen.« Jetzt erst setzte sich Aiden wieder an den Tisch, dem Detective gegenüber.

      »Nein. Ich meine Familie in jedem Sinne. Eltern, Geschwister, weitere Verwandte.«

      »Oh. Ja.« Aiden runzelte die Stirn. »Eltern, eine Schwester.«

      »Onkel und Tanten?«

      Aiden nickte. »Ein Onkel. Er hat geheiratet, ich habe einen Cousin. Entschuldigen Sie, aber was hat das mit dieser Sache hier zu tun?«

      Der Detective notierte sich das alles auf dem Blatt Papier. »Leider eine ganze Menge, Mr. Miller. Was ist mit einer Freundin? Irgendwelche Liebschaften?«

      »Nicht... Nein, nicht im Moment.« Aiden war verwirrt. »Meine Großeltern mütterlicherseits leben noch und mein Großvater väterlicherseits«, fügte er dennoch hinzu. »Mr. Wilkins... Können Sie mir erklären, was hier vorgeht?«

      »Geben Sie mir noch eine Minute«, meinte der, während er schrieb. »Wo wohnen sie?« Er tippte auf die Liste. »Ich brauche die Adressen. Und auch Ihre. Leben Sie alleine?«

      »Ja, alleine.« Aiden sah auf das Papier. »Alle Adressen?«

      »Ja. Bitte.«

      Aiden nickte, sah auf die Liste und nach und nach sagte er die Adressen an. Es war ein Glück, dass er alle im Kopf hatte, was wahrscheinlich daran lag, dass es noch nicht lange her war, dass er Weihnachtskarten an alle geschrieben hatte.

      Sam schrieb alles mit. »Was ist mit Freunden?«

      »Davon gibt’s einige.« Mit großen Augen sah Aiden den Detective an. »Sagen Sie nicht, das brauchen Sie auch alles...«

      »Für den Anfang nur von den engsten Freunden. Aber das können wir auch später machen.« Er legte den Stift nieder und drehte jetzt das Foto um, das er vorher auf den Tisch gelegt hatte, schob er es Aiden zu. »Der Mann, den Sie gesehen haben, heißt Enrico Cortez.« Er tippte auf das Foto, das das Gesicht des Mannes zeigte. Inklusive der Narbe.

      Aiden sah auf das Bild und erstarrte. Da war er! Das war der Mann! Der Mörder! Schnell nickte er, griff mit beiden Händen nach dem Foto und hob es vom Tisch, um es sich genauer anzusehen.

      »Ja! Ja, das ist er!«

      Sam nickte. »Das Problem dabei ist, dass es sich um einen der gefährlichsten und einflussreichsten Männer dieser Stadt handelt. Wenn nicht sogar dieses Staates.«

      Und da war sie wieder, die Gänsehaut, die Aiden schon den ganzen Abend begleitet hatte. Erst der Kälte wegen, jetzt von einem Gefühl ausgelöst, das mit eisigen Fingern nach ihm zu greifen schien. Er prägte sich das Gesicht ein, die dunklen, beinahe schwarz wirkenden Augen, die deutlich hervorstehende Augenbrauenpartie, die fliehende Stirn, das verhältnismäßig kleine Kinn und die kräftige Kieferpartie. Die Narbe war auch auf dem Foto deutlich zu erkennen. Nur langsam drangen die Worte seines Gegenübers zu Aiden durch.

      »Wieso Problem?«, fragte er, löste mit Mühe den Blick von dem Foto und legte es wieder auf den Tisch. Die Gänsehaut jedoch blieb.

      »Sie haben ihn gesehen. Wie er einen anderen Menschen tötet. Und Sie haben es auch noch gefilmt.« Sam Wilkins zog das Handy aus seiner Hosentasche. »Das ist ein Glücksgriff. Bitte entschuldigen Sie, Ihnen muss das alles andere als glücklich vorkommen und alles, was ich Ihnen jetzt sage, wird Sie vermutlich dazu bringen, mich zu hassen. Aber Sie sind seit Jahren der erste Zeuge, der lebend bei der Polizei angekommen und in der Lage ist, gegen Cortez auszusagen. Und nehmen Sie es mir nicht übel: Eine andere Wahl bleibt Ihnen nicht. Selbst wenn Sie sagen, Sie wollen damit nichts zu tun haben, Cortez wird von Ihnen erfahren. Und er wird versuchen, Sie auszuschalten. Sie sind ein unkalkulierbares Risiko für ihn.«

      Es dauerte einen Moment, bis Aiden antwortete. Als er es tat, klang seine Stimme wie durch Watte an seine eigenen Ohren. Schwammig, als hätte er zu viel Schmerzmittel genommen, das ihm nun den Kopf vernebelte. »Ausschalten...«

      »Ja. Aber wenn Sie mir vertrauen und das tun, was ich sage, dann werde ich dafür sorgen, dass das nicht passieren kann.«

      »Mo... Moment.« Aiden tippte mit allen Fingern einer Hand auf das Foto zwischen ihnen. »Dieser Mann möchte mich umbringen? Ich... Ich weiß nicht mal, ob mich der Fahrer des Autos gesehen hat oder nicht.«

      »Das spielt keine Rolle. Cortez hat seine Leute überall. Ich bin nicht einmal sicher, ob diese Wache hier frei von seinen Leuten ist. Niemand bekommt ihn zu fassen. Er ist wie ein glitschiger Fisch. Darum führe ich Ihre Befragung auch alleine durch. Und nicht mit Officer Larkin zusammen. Er weiß eh schon zu viel. Ich weiß nicht wie, aber Cortez wird davon erfahren, dass es Sie gibt. Und das vermutlich eher früher als später. Doch dass Sie direkt hierher gekommen sind, verschafft uns ein schmales Zeitfenster.« Der Detektive merkte deutlich, dass das für den jungen Mann vor ihm alles keinen Sinn ergab. Aber er kannte Cortez. Der Mann war ein Monster. Skrupellos ging er über Leichen, räumte jeden aus dem Weg, der ihm in die Quere kam. Verteilte Drogen in der Stadt für geringes Geld. Drogen von so geringer Qualität, dass die Menschen an den Folgen des Konsums starben wie die Fliegen. Wie oft hatte er schon geglaubt, endlich einen Beweis gegen Cortez in der Hand zu halten? Nur damit sich dann kurz darauf herausstellte, dass ein Asservatentütchen verschwunden war. Dass ein Zeuge spurlos verschwunden war.

      Verschwunden schien auch Aidens Fähigkeit, genau zuzuhören. Die Worte preschten nur so durch seine Gedanken. Glücksgriff, erster Zeuge, lebend, aussagen, keine andere Wahl, Zeitfenster, ausschalten. Immer wieder dieses Ausschalten. Cortez würde ihn umbringen. Das war es, was ihm dieser Polizist gerade versuchte klarzumachen. Aiden hatte sich nie sonderlich mit der Justiz beschäftigt, daher fragte er sicherheitshalber nach.

      »Heißt das, ich bin so etwas wie Ihr Kronzeuge?«

      »Wenn Sie sich tatsächlich dazu bereit erklären, gegen ihn auszusagen, dann ja. Dann sind Sie genau das. Aber ob Sie aussagen oder nicht, ich muss Sie fürs Erste in Sicherheit bringen.«

      Aiden wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Sein Leben da draußen schien mit einem Schlag so weit entfernt. Er war hier und zumindest gerade in Sicherheit. Oder arbeitete am Ende Sam Wilkins auch für Cortez? Was, wenn es so war?

      »Wieso sollte ich Ihnen dann vertrauen? Wohin wollen Sie mich bringen? Kann ich nicht hier bleiben?« Es gab so viele Fragen in ihm, so viele Fragen, die er kaum greifen konnte und so kämpften sich einfach die dringendsten vor und die betrafen ihn selbst.

      Sam lächelte. »Es gibt absolut keinen Grund, warum Sie mir vertrauen sollten.« Er fand die Art seines Gegenübers zu denken sehr erfrischend. Der junge Mann war auf Zack.

      »Normalerweise würde ich den Weg des Zeugenschutzprogramms gehen. Sie in ein sicheres Haus bringen und abwarten bis die Gefahrenbewertung durch ist und dieses ganze Trara. Viel Bürokratie. Aber die Sache ist, ich kann hier niemandem trauen, wenn es um Cortez geht. Er hat Zugriff auf polizeiliche Ermittlungen. Darum wird das hier auch niemand zu Gesicht bekommen.« Sam tippte auf die Zettel, die Louis Larkin vorhin begonnen hatte auszufüllen. »Ich habe eine Idee, wohin ich Sie bringen