Ava Patell

Der Kronzeuge


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Wir fangen noch einmal vom Anfang an. Ich bin Detective Leutnant Sam Wilkins. Wie heißen Sie?«

      Aiden hatte gerade die Hände um den Pappbecher gelegt, in dem eine klare Flüssigkeit abgefüllt war, er vermutete Wasser. Doch jetzt ruckte sein Kopf hoch und er starrte den Mann vor ihm an, den er auf Mitte 40 schätzte.

      »Was? Wieso von vorne? Ich hab doch schon alles dem Officer erzählt!« Aiden deutete auf die Tür.

      »Ja. Aber ich möchte, dass Sie es mir noch einmal erzählen. Langsam. In allen Einzelheiten.«

      »In allen...« Aidens Magen zog sich krampfhaft zusammen und er seufzte tief. Alles von vorn...

      »Gut, also...« Immerhin hatte Aiden so Zeit, all seine Gedanken noch einmal neu zu ordnen und vielleicht bekam er die Geschichte jetzt in der chronologisch richtigen Reihenfolge zusammen. Die Geschichte, die keine Geschichte war, sondern Realität. Schwer schluckte er, nahm einen Schluck von dem Wasser. Es schmeckte schal.

      »Ich arbeite in einem Altersheim. Heute Nacht gab es einen Zwischenfall und ich wurde ins Heim gerufen. Es ist die ›Mapleleaf Residence‹. Ich habe dort alles geklärt und wollte zur Bushaltestelle, der Bushaltestelle in der Lincoln Road. Das Heim habe ich kurz nach halb sechs verlassen, ich habe auf die Uhr gesehen, das weiß ich also noch genau. Jedenfalls kenne ich eine Abkürzung und die führt durch diese kleine Gasse, durch die keine Autos passen. Ich wollte meiner Schwester schreiben, deshalb hatte ich das Handy in der Hand. Kurz vor dem Ende der Gasse habe ich ein Rascheln wie von Kleidung gehört, dann ein Röcheln. Ich bin näher und dann habe ich die beiden Männer gesehen.« Aiden tippte auf die Stelle, an dem sein Handy gelegen hatte. »Dann habe ich alles gesehen, was auch auf meinem Handy drauf ist.«

      »Beschreiben Sie es mir. Nicht das, was auf dem Handy zu sehen ist. Sondern das, was Sie gesehen haben.« Sam sprach ruhig und einfühlsam.

      »Ich...« Aiden kam sich vor wie in einem schlechten Film oder einem noch mieseren Theaterstück. Er hatte doch alles bereits gesagt! Aber dieser Detective vor ihm war weitaus interessierter an seiner Geschichte und, das rief sich Aiden jetzt ins Gedächtnis, er war vorhin nicht dabei gewesen. Also nickte er leicht, bevor er weitersprach.

      »Der Größere, der Typ mit der Narbe im Gesicht, sah gepflegt aus, sein Haar war kurz geschoren, er trug dunkle Kleidung, beinahe ausschließlich schwarz, denke ich. Vielleicht war der Pulli dunkelblau, ich weiß nicht genau. Er hielt diesen kleineren Mann im Schwitzkasten, dessen Füße kaum noch den Boden berührt haben. Er hat... Er hatte Angst, er hatte die Augen weit geöffnet. Ich glaube, sie haben die Lippen bewegt, aber ich habe nichts gehört, wenn sie etwas gesagt haben.« Aidens Finger schlossen sich fester um den Pappbecher.

      »Ich habe... Ich habe das Messer in der Hand des großen Mannes gesehen. Er hat ihn einfach getötet.« Aiden nickte leicht. »Dann hat sich ein Auto genähert und ich hab... Ich hab überlegt, was ich machen kann und dann habe ich versucht, mich so leise wie möglich zu verhalten und ich habe das Video angemacht. Dem Mann mit der Narbe ist das kleine Päckchen aus der Tasche gefallen. Ich habe es nicht genau gesehen, es war, wie ich schon sagte, hell und aus Plastik, mehr weiß ich nicht. Vielleicht Drogen? Ich hab keine Ahnung...« Aiden strich sich durchs Haar. »Und dann hat der Große gegrinst und das Auto hat ihn angeleuchtet und er ist eingestiegen. Ich hab nicht geahnt, dass das Auto zu ihm gehört. Es war ein schwarzer Geländewagen. Die Marke... Es war... Ich weiß es nicht. Etwas Großes.« Aiden seufzte.

      »Sie sind ein sehr guter Beobachter, Mr. ...« Sam lächelte. »Sie haben mir noch immer nicht Ihren Namen verraten.«

      Aiden blinzelte. Das hatte er tatsächlich nicht. »Aiden. Aiden Miller.« Es tat unheimlich gut, angelächelt zu werden, ernst genommen zu werden. Aiden fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen.

      »Danke«, sagte er leise und etwas zu spät, aber auch das Kompliment hatte ihm sehr gut getan. Prompt fühlte er sich etwas besser. »Können Sie damit etwas anfangen?«

      »Mr. Miller, das, was Sie da beobachtet haben, war ein schweres Verbrechen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute sein muss. Und trotzdem haben Sie so besonnen reagiert. Nur wenige hätten in dieser Situation so gehandelt wie Sie.« Er betrachtete sein Gegenüber einen Augenblick. »Vermutlich ist das auch der Grund warum Sie noch leben. Brauchen Sie einen Arzt?«

      Leicht straffte Aiden die Schultern. Besonnen. Er hatte besonnen gehandelt. Das hatte er wirklich, oder? Er war sich nicht sicher. Überhaupt war er sich über nichts mehr sicher. War das alles wirklich passiert? Und wie fühlte er sich eigentlich?

      »Ich... Ich weiß nicht. Ja.« Ein Arzt konnte nicht schaden. Vielleicht hatte der ein Beruhigungsmittel, denn das war etwas, das Aiden wirklich gebrauchen konnte. Oder? Oh Gott, er war verwirrt. Ihm war immer noch etwas übel. Sein Magen fühlte sich wund an und den bitteren Geschmack der Galle in seinem Mund konnte selbst das Wasser nicht wegspülen. Erst jetzt bemerkte Aiden, dass seine Hände zitterten. Genau wie seine Knie. Ihm war kalt und im Grunde wollte er nichts weiter als nach Hause, sich in seinem Bett verkriechen und nie wieder diesen sicheren Ort verlassen! Er senkte den Blick.

      »Ich will nur nach Hause«, murmelte er.

      Selbst nach so vielen Jahren berührte es Sam noch, wenn er so etwas sah. Die Angst im Gesicht eines Menschen, der das wahre Gesicht der Welt gesehen hatte. Der auf der Sonnenseite lebte und sich auf einmal im Schatten wiederfand. Und dafür hielt sich der junge Mann ihm gegenüber erstaunlich gut.

      »Ich werde Ihnen einen Arzt kommen lassen. Und dann reden wir weiter. Ich brauche noch ein paar persönliche Angaben von Ihnen. Kann ich Sie für ein paar Minuten alleine lassen? Oder soll ich jemanden schicken, der Ihnen Gesellschaft leistet?«

      »Nein. Nein, das geht schon.« Aiden brachte in diesem Moment kein Lächeln zustande. Diesmal wagte er es nicht, aufzustehen. Er hatte Angst, dass ihn seine Knie nicht tragen würden, also wartete er einfach ab. Persönliche Angaben. Dann würde er mit dem Arzt sprechen, würde vielleicht ein Beruhigungsmittel bekommen und dann konnte er nach Hause. Der Detektive erhob sich und verließ das Zimmer. Aiden folgte ihm mit den Augen.

      Sam war dankbar für die kurze Pause. Er konnte kaum glauben, was er da gerade in der Hand hielt. Das war einfach unglaublich! Nun musste er das Ganze nur noch dem jungen Mann erklären und er hoffte, dass dieser stark genug war, das zu verkraften. Vom einen Schlag auf den anderen würde sich dessen Leben verändern. Während Sam den diensthabenden Arzt anrief und auf die Wache bestellte, rasten seine Gedanken.

      Er brauchte eine Lösung. Und zwar dringend. Er konnte Aiden auf keinen Fall nach Hause gehen lassen. Das Ganze würde durchsickern. Und er wusste genau, der normale Zeugenschutz würde nicht ausreichen. Er trat in seinem Büro an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Foto heraus. Einen Moment lief er auf und ab. Wozu er genau zwei Schritte Platz hatte. Er musste den jungen Mann in Sicherheit bringen. Nicht nur, damit dieser aussagen konnte. Sondern schon alleine, um ihn zu schützen. Er sah auf das Bild in seiner Hand und schnaubte. Diese hässliche Visage wollte er nur an einem Ort sehen.

      Und das war hinter Gittern.

      ***

      Die junge Blondine, die Aiden auf der Wache begrüßt hatte, führte wenig später einen Arzt zu ihm. Der Arzt stellte sich als Dr. William Townsend vor. Er nahm Aidens Puls, fragte ihn ruhig nach seinem Befinden und Aiden berichtete von der Übelkeit, dem Herzrasen, der Fahrigkeit.

      Nichts Ungewöhnliches, konstatierte der Doktor und Aiden hätte das auch gut allein gewusst. Er fragte sich, wo sein Handy war, denn das hatte er noch immer nicht zurück, dabei hatte der Detective davon gesprochen, dass er es wiederbekommen würde.

      »Ich rate Ihnen dringend, mit einem Psychologen zu sprechen, Mr. Miller.«

      »Danke, aber gerade möchte ich nur meine Ruhe«, antwortete Aiden. »Kann ich... Können Sie mir ein Beruhigungsmittel verschreiben? Nur für die Nacht? Damit ich schlafen kann?«

      Der Arzt lächelte, reichte ihm einen Blisterpackungsstreifen aus der braunen Tasche, die er bei sich trug. »Es ist nur ein Leichtes, aber es sollte Ihnen helfen.«

      Aiden