Ava Patell

Der Kronzeuge


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Zum ersten Mal nahm er die Augenfarbe seines Gegenübers wahr. Überdeutlich. So überdeutlich wie das Telefonklingeln, das weiter entfernt, außerhalb des Raums, zu hören war oder wie seinen eigenen Herzschlag. Am liebsten hätte Aiden sich gekniffen und wäre aus diesem Albtraum erwacht. Er verstand nicht, was gerade vor sich ging, konnte all das nicht wirklich begreifen. Es rauschte an ihm vorbei, hatte keine Chance, bei ihm anzukommen.

      »Was ist mit meiner Familie? Meinen Freunden?«, hörte sich Aiden fragen. Eine weitere dringende Frage. Immerhin hatte Detective Wilkins nach all diesen Menschen gefragt.

      »Sie werden keinen Kontakt zu ihnen haben. Zu ihrem Schutz.«

      Diese Worte drangen dann doch zu Aidens Bewusstsein durch und sie pressten ihm die Luft aus den Lungen.

      »Nein. Nein! Das...«

      »Jedes Wort von Ihnen kann Ihre Familie und Ihre Freunde in Gefahr bringen. Der beste Schutz für all diese Menschen ist, wenn Sie absolut gar nichts wissen. Ich weiß, das ist hart und klingt unverständlich für Sie. Aber anders ist es nicht zu machen. Nur, wenn Cortez sicher sein kann, dass sie alle nichts wissen, können sie sicher sein.«

      Aiden nickte langsam, obwohl alles in ihm schrie, dass er das nicht wollte, dass er nach Hause wollte, nur in sein Bett. Dass er seiner Schwester Amy schreiben wollte und seiner Mum, seinem Dad und all seinen Freunden. Dennoch nickte er, immer wieder, bis ein leises Geräusch ihn aufschreckte und zusammenzucken ließ. Detective Wilkins hatte nach dem Foto gegriffen.

      »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

      »Sie müssen im Moment gar nichts sagen. Ich weiß, dass das alles unheimlich viel ist.« Sam sah auf das Bild vor sich. »Aber ich kann Ihnen versprechen, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Cortez ins Gefängnis kommt. Für Mord bekommen wir ihn endlich dran.« Er tippte auf das Handy. »Mit Ihrer Aussage und dem Video haben wir endlich etwas in der Hand.« Jetzt ging es nur daran, diese Informationen den richtigen Leuten zukommen zu lassen. Und er brauchte einen Richter, der nicht korrupt war.

      »Wie lange kann das denn dauern?«

      »Das ist schwer zu sagen. Ein paar Tage oder ein paar Wochen. Leider.«

      Kurz presste Aiden die Lippen aufeinander, um irgendein Gefühl zurückzubekommen. Doch es brachte nichts, er fühlte sich taub. Sein gesamter Körper fühlte sich taub an. »Dann bringen Sie mich in Sicherheit.«

      Sam sah auf seine Uhr und erhob sich dann. »Gut.«

      Aiden erhob sich ebenfalls und dachte für einen Moment, er hätte zugenommen. Sein Körper fühlte sich schwer an. »Und wo bringen Sie mich nun hin?«, fragte er den Detective.

      Der zögerte einen Moment. »Sagen wir für den Augenblick einfach, zu einem Bekannten.« Denn anders wusste er diesen Mann nicht zu bezeichnen. Er wusste nicht einmal, ob sein Plan aufgehen würde. Doch sicherer als dort würde der junge Mann nirgends sein.

      Aiden wusste nicht, ob er sich mit dieser Beschreibung sicherer fühlte oder nicht. Der Detective klang nicht gerade so, als verbinde ihn mit dem ›Bekannten‹ eine enge und vertrauensvolle Beziehung. Sie verließen den Verhörraum und traten zurück in den Flur, in dem sich Aiden sofort weniger aufgehoben fühlte.

      »Werden Sie meiner Familie Bescheid geben? Dann möchte ich nämlich, dass Sie...«

      »Nein, Mr. Miller. Kein Kontakt. Bis die Sache geklärt ist.«

      Aiden blinzelte den Mann neben ihn an. »Nicht einmal... Sie sagen Ihnen nicht einmal Bescheid?«, fragte er erschrocken.

      »Ich kann verstehen, dass Sie das schockiert, aber glauben Sie mir. Je weniger sie alle wissen, desto sicherer ist es. Jede Information kann Ihre Familie in Gefahr bringen.«

      »Sicherer vielleicht, aber sie werden sich Sorgen machen! Sie werden denken, mir sei etwas zugestoßen und...« Aiden biss sich fest auf die Unterlippe.

      »Ja. Das werden sie. Das kann ich auch nicht schönreden.« Sie hielten vor Sams Bürotür an. »Ich hole nur kurz meine Autoschlüssel.« Er trat in den kleinen Raum, griff nach seinem Sakko und den Schlüsseln zu seinem Privatwagen. Leise zog er die Tür hinter sich zu, als er wieder zu dem jungen Aiden Miller trat. Der war immer noch blass.

      Aiden sah zu dem Detective auf. Er war einen halben Kopf größer als er selbst und jetzt sah er ihn aus grauen Augen offen an.

      »Ich hätte gern mein Handy zurück«, sagte Aiden. Er war hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen. Er war wütend auf den Detective und dankbar zugleich. Er wollte nur nach Hause, wusste aber, dass er dort nicht sicher war und ähnlich verhielt es sich mit seiner Familie und seinen Freunden. Er wollte Kontakt zu ihnen, wollte mit ihnen schreiben und sprechen! Doch er wusste, er spürte, dass Sam Wilkins die Wahrheit sagte und er all diejenigen gefährden würde, die ihm etwas bedeuteten. Was war nur in diesen wenigen Stunden passiert, das sein Leben so auf den Kopf gestellt hatte? Aiden ahnte, dass er im Moment nur einen ganz geringen Teil davon begriff, aber dieser Teil reichte schon aus, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

      »Sie bekommen es zurück. Aber ich muss erst die Daten sichern lassen.« Sie liefen jetzt an der Anmeldung vorbei und Sam spürte den Blick von Anna deutlich. Sah die Frage dahinter, die er aber nicht beantworten würde. Er würde niemandem erzählen, wohin er diesen Mann brachte, denn im Moment konnte er niemandem vertrauen außer sich selbst. Er zog sein Sakko über, als sie nach draußen traten und es verbarg so die Dienstwaffe, die er am Gürtel trug. Er deutete auf einen alten Dodge.

      »Das ist mein Wagen.« Die Sonne hatte sich bereits durch die Wolken gekämpft und ein Blick auf die Uhr sagte Sam, dass es bereits kurz nach neun Uhr war. Rebecca würde ihm die Hölle heiß machen, aber auch das musste warten.

      »Wenn Sie... mich umbringen wollen, machen Sie es bitte schnell«, sagte Aiden, als auch der Detective in den Dodge gestiegen war. Er versuchte ein Lächeln.

      Sam zog die Tür hinter sich zu, sah dann den jungen Mann neben sich an. »Entschuldigung, was?«

      Aiden seufzte leise. »Ich meine nur, falls Sie doch mit diesem Cortez unter einer Decke stecken, dann machen Sie wenigstens schnell.«

      Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Detectives. »Keine Sorge. Ich habe wirklich nicht vor, sie umzubringen. Ganz im Gegenteil. Ich will, dass Sie am Leben bleiben.« Er startete den Motor. »Da fällt mir ein... Haben Sie Hunger?«

      »Hunger?«, wiederholte Aiden, als würde er dieses Wort zum ersten Mal hören. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.« Er schnaubte leise und griff nach dem Gurt, um sich anzuschnallen. »Ganz und gar nicht, mir ist übel.« Noch dazu schwebte ein Gefühl über Aiden, das er als Wolke wahrnahm. Eine Wolke des Misstrauens, der Unsicherheit, der Angst. Cortez würde ihn finden, ihn ausschalten. Das hatte der Detective gesagt. Ihm trachtete jemand nach dem Leben oder er würde es tun, sobald er von ihm erfuhr. Fest strich Aiden mit beiden Händen über seine Oberschenkel. Das konnte unmöglich die Realität sein. So etwas passierte doch sonst nur im Fernsehen! Oder anderen Leuten. Aber nicht ihm.

      »Woher wissen Sie, dass ich bei Ihrem Bekannten sicher bin?«, fragte er und sah dabei aus dem Fenster. Wieder überkam ihn eine Gänsehaut, ließ ihn schaudern. Nirgends war es sicher. Auch das hatte Wilkins gesagt. Aiden betrachtete die Menschen auf dem Bürgersteig, in den Autos und Bussen und ihn überkam ein seltsam weltfremdes Gefühl.

      Der Detective konzentrierte sich auf den Verkehr, während er sprach. »Sagen wir einfach, er hat sehr großes Interesse daran, Cortez die Suppe zu versalzen.«

      Aiden zog es vor zu schweigen, während Häuser, Menschen und der morgendliche Verkehr vor dem Fenster vorbeizogen. Heute war er eigentlich mit Amy zum Abendessen verabredet. Sie hatten Pizza machen wollen.

      »Ich weiß, das Ganze kommt Ihnen merkwürdig vor. Und normalerweise würde ich den üblichen bürokratischen Weg gehen. Sie in ein sicheres Haus bringen lassen, Bewachung durch Polizeibeamte... Aber wie ich schon sagte: Cortez ist unheimlich schwer zu fassen und ich bin mir sicher, dass er seine Leute auch bei der Polizei hat. Dieser Mann ist... ein Dreckschwein. Er kontrolliert