Niko Arendt

Chicago Affair


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Verlockend war der kurze Augenblick, den er in Freiheit genießen würde.

      Allerdings wäre das Ende seines Ausflugs weit weniger verlockend. Mit einem ekelhaften Platschen, platter als ein Pfannkuchen in der Pfanne, würde er unten aufschlagen. Von ihm würden nicht mehr als gebrochene Knochen und Blut übrig bleiben. Sean dachte kurz über dieses Schicksal nach. Vielleicht war es doch gar keine so schlechte Idee.

      „Gefeuert?“, stotterte er ungläubig. Er erkannte seine Stimme kaum wieder. Sein ansonsten männlicher, etwas rauchiger Bariton war verwässert und dünn. Trotz der Vorhalte mancher Kollegen, dem Missfallen, die ewigen Diskussionen und dem elenden Gemaule und Gemecker, hatte er selbst seinen Chef für fair gehalten. Aber diese Kündigung war scheiß unfair. Was für ein Arschloch.

      Und das ohne den leisesten Hinweis. Einfach so. Kein ‚Hallo, du hast einen Fleck auf dem Hemd, der mir nicht gefällt. Könnte sein, dass ich dich deswegen rausschmeiße.‘

      Aber besser wäre: ‚Hey, such dir schon mal was Neues. Ich plane dich zu feuern. Verlier nicht gleich den Kopf, ich warte so lange, bis du was Neues findest.‘

      Stattdessen ließ er ihn sofort ins offene Messer laufen. Viel schlimmer war jedoch das heuchlerische Lächeln auf dessen Gesicht, das Seans glorreiche Zukunft in kleinste Einzelteile zerhackte.

      „Mr. Grandy, ich hatte Sie damals eingestellt, weil ich das Gefühl hatte, Sie seien besonders. Mehr, als das, was in Ihrer lahmen Bewerbung stand. Sie hatten so ein Feuer. Verstehen Sie?“

      Nein. Eigentlich verstand er überhaupt nichts. Klar, dieser Job war ein absoluter Glücksgriff. Trotz seiner Ausbildung und ein paar ansehnlicher Referenzen und Weiterbildungen reichten seine Qualifikationen bei Weitem nicht aus, um von solch einem bedeutsamen und expandierenden Unternehmen eingestellt zu werden. Aber Sean hatte es probiert, sein bestes Foto für die blöde Bewerbung raus gekramt, sich mit Hochprozentigem Mut in der Toilette angetrunken. Und dann hatte Bourdain ihn mit selbigem Lächeln, das ihm damals nicht so verlogen vorgekommen war, in seiner Firma willkommen geheißen.

      „Als Sie mir vor einem Monat die Hand reichten, war es um mich geschehen. Sie verdrehten mir den Kopf. Ich dachte, Sie seien mein Mann.“

      Irritiert neigte Sean den Kopf zur Seite. Er fand die Wortwahl unglücklich, sagte aber nichts.

      Bourdain erhob sich aus seinem gut gepolsterten Chefsessel und ging mit bedächtigen Schritten zu der verglasten Innenfront des Büros, um die Rollläden zu schließen. Sean schnürte es die Kehle zu.

      „Leider“, Bourdain wurde ernst, „sind Sie mehr mit sich selbst beschäftigt. Machen zu viele Pausen. Reden, anstatt zu arbeiten, und telefonieren oft.“

      Sean hätte am liebsten bei jedem zweiten Wort protestiert. Denn er wusste, dass einige seiner hoch geschätzten Kollegen mehrstündige Auslandstelefonate auf Kosten der Firma führten und dass sich die Koffeinzombies bereits nach einer Stunde die zehnte Tasse Kaffee aus dem Automaten zogen, anstatt ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen.

      Gerade als Sean etwas zu seiner Verteidigung sagen wollte, setzte Bourdain erneut an. „Würden Sie die gleiche Energie in Ihre einfache und doch bedeutende Arbeit stecken, wie in ihre Eheprobleme, dann müssten wir dieses unangenehme Gespräch nicht führen.“

      Bourdain setzte sich zurück in seinen Bürostuhl. Mit einer eleganten Bewegung strich er einige Strähnen seiner gewellten, braunen Haare zurück, die ihm in die Stirn gefallen waren. Seine Körperhaltung strahlte bittere Enttäuschung aus, was Sean mächtig aufgesetzt vorkam. Mit seinen azurblauen Augen fixierte er Sean.

      „Haben Sie etwas dazu zu sagen?“, fragte der Brünette unschuldig und schlug die Beine wichtigtuerisch übereinander.

       Dieses Arschloch.

       Dieser Idiot.

       Dieser reiche, überhebliche Schnösel.

       Wie hatte ich nur so gut von ihm denken können?

      Was wusste dieser blasierte Affe schon über seine Ehe? Sicher beneidete er ihn um diese Schönheit. Das musste er nicht. Sie war hübsch. Mehr nicht.

      Wenn Sean jetzt den Mund aufmachen würde, bestand die Gefahr, dass er von seinem Wortschatz an provokativen Obszönitäten Gebrauch machte. Oder, er würde - was wesentlich schlimmer als jegliche verbale Beschimpfung wäre - auf die Knie fallen und Bourdain erbärmlich um Gnade anbetteln. Nein, er hatte seinen verdammten Stolz.

      Mit todernstem Gesicht schlug er beide Handflächen auf den Tisch seines Chefs, sodass jenem beinahe die Tasse entkoffeinierten Kaffees aus den Händen rutschte, nach der er gegriffen hatte.

      „Selbstverständlich habe ich etwas zu sagen!“

      Ein guter Anfang, fand er. Gespannt richtete Bourdain einen scharfen Blick auf ihn. Blickkontakt war gut. Sehr gut. Er musste selbstbewusst wirken.

      Nach einem zähen Augenblick, indem Bourdain zweimal an seiner Kaffeetasse nippte und dann fragend die Augenbrauen hochzog, entschloss Sean sich endlich den Mund aufzumachen.

      „Das können Sie nicht tun!“

      „Warum nicht? Ich bin der Boss. Ich kann tun, was ich will.“

      Das klang nicht besonders professionell, oder? Eher kindisch.

      Sean zeigte ihm seine offenen Handflächen, was seinerseits eine Geste für Armut sein sollte. „Ich habe Schulden. Eine Familie, die ich-.“

      „Ich wusste nicht, dass Sie Kinder haben.“

      „Habe ich nicht.“

      „Eine Ehefrau ist keine-.“

      „Ich habe einen Hund. Punchy! Punchy ist ein übergewichtiger, alter Labrador. Er ist inkontinent und braucht Windeln. Wovon soll ich die bezahlen? Hundewindeln sind scheißteuer.“

      Wild gestikulierend versuchte er seinen unbedeutenden Worten Ausdruck zu verleihen. Bourdain konnte unmöglich wissen, dass Punchy in hohem Alter in die ewigen Hundejagdgründe gegangen war, als Sean sich noch Sorgen um Pickel, Zahnspangen und dem misslungenen Blondieren seiner Haare Gedanken gemacht hatte.

      „Ich werde mein verdammtes Haus verlieren. Dann bin ich obdachlos. Meine Frau muss sich prostituieren, während ich die Passanten um eine kleine Spende anbettele und ihre Verachtung ertragen muss. Nehmen Sie denn keinen Anteil am Schicksal Ihrer Mitmenschen?“

      „Nein.“

      „Nein?“ Es entstand eine lange Pause. „Das hätte ich jetzt nicht erwartet.“

      „Seien Sie nicht melodramatisch.“ Belustigt schürzte Bourdain die Lippen.

      „Bitte feuern Sie mich nicht.“ Sean war um den Tisch herumgegangen und stand Bourdain von Angesicht zu Angesicht gegenüber, während er ein mitleiderregendes Gesicht verzog und mit den letzten Worten sein unwürdiges Dasein besiegelte. „Ich tue alles für diesen Job. Alles.“

      Einen verhängnisvollen, schwermütigen Moment lang starrte Bourdain ihn aus seinen kalten Augen heraus an. Und dann ging alles verflucht schnell. Sein Chef griff nach der billigen, braunen Krawatte mit den grünen Punkten, die Seans Frau ihm zu Weihnachten geschenkt hatte und welche dieser aus ganzer Seele verabscheute. Er hätte sie auch in den Tiefen seiner Sockenschublade verrotten lassen, wenn Amanda sie heute nicht zutage gefördert hätte. Fakt war, dass seine Lippen nur wenige Zentimeter von Bourdains entfernt waren. Abrupt in der Bewegung innehaltend, starrte er seinen erbärmlichen Angestellten in Grund und Boden.

      „Sind Sie etwa käuflich, Mr. Grandy?“

      Eine abscheuliche Gänsehaut bildete sich auf Seans Unterarmen, als sich fremde Lippen brutal auf die seinen legten. Sein Gehirn erlitt einen Kurzschluss, infolge der Flut an Gefühlen, die ihn überrannten. Error! Ohne Erfolg auf 100-prozentige Genesung.

      Überrascht schnellten Seans Augenbrauen in die Höhe. Ihm blieb überhaupt keine Zeit zum Reagieren. Aber wie sollte man auch reagieren, wenn die Zunge des Chefs dem Gaumen schmeichelte?