Sanne Prag

... und dann geschah es


Скачать книгу

      Vorspann

      Der Ort: Ein düsteres aber sehr kostbares Treppenhaus mit einem schön gearbeiteten Geländer, das in die Höhe stieg zu einem schwachen Licht. Ein Dom, vier Stöcke hoch, blaugrau, dämmrig.

      Eine Frau im blaugrauen Mantel betrat das Haus. Ihr blasser Schal, der verhüllte Kopf machte sie unsichtbar, blass angepasst schien sie im Hintergrund zu verschwinden. Sie bewegte sich mit Vorsicht. Kurzes Anhalten, Lauschen, Atempause. Dann schlich sie weiter, ging auf Zehenspitzen. Lautlos, die Füße über den Steinboden tragend mit Stöckelschuhen. Über glatten Steinboden wegen der Reinigung, große blasse Platten. Der Stöckel durfte nicht aufsetzen, musste immer freischwebend in der Luft gehalten werden. Im ersten Stock rutschte sie aus. Es hallte durch den Dom. Sie fluchte leise und verschwand in einem dunklen Gang. Man hörte Schlüssel klappern. Ein Geräusch hinter der Türe nebenan! Frau Wallraff hatte die Schlüssel gehört! Warum waren Schlüssel verdammt noch einmal aus Metall und klapperten so. Aber das Geräusch hinter der Türe entfernte sich wieder. Tiefe Erleichterung, der Atemkrampf löste sich.

      Es war finster, weil die Gangbeleuchtung wieder einmal ausgefallen war. Sie tastete nach dem Schlüsselloch steckte ihren Finger hinein um dann an der Hand entlang den Schlüssel einzuführen, aber er klemmte. Sie zog und schob ihn hin und her. Er drehte sich nicht. Dann kramte sie wieder in der Tasche. Ihre Hand verschwand im tiefen Raum, ihr Arm verschwand. Es dauerte eine gute Zeit. Sie zog einen sehr großen Schlüsselbund heraus und eilte zum Anfang des Ganges, wo immerhin schlechtes Licht herrschte. Sie schaute die Schlüssel in ihrer Hand unglücklich an.

      Sie hatte eine Vision, eine Erinnerung, ein Bild aus der Vergangenheit: Tante Ida mit dem Rücken zur Türe, einen Arm hoch, wie einen gebrochenen Flügel, den anderen Arm unten durch. Sie nahm wieder den ersten, den verdächtigsten Schlüssel. Dann versuchte sie die gleiche Haltung einzunehmen und fand, dass sie in dieser Haltung ihr ganzes Gewicht gegen die Türe lehnen konnte und dann den Schlüssel drehen. So ging es verhältnismäßig leicht. Sie öffnete die Türe, die in den Gang hinaus klappte – und stand vor einer Wand, einer Wand von Angesammeltem.

      Visionen wie die Mauern von Jerusalem, der Berg Sinai kreisten in ihrem Kopf und ein tiefes Ohnmachtsgefühl nahm Platz in ihrem unteren Rücken. Wie sollte sie diese Wohnung durchsuchen? Hilflose Panik setzte ein, unterbrochen von einem Schrei, der in der Tiefe verhallte, langsam die Bergwand hinunter. Grässlich, panisch, nicht erreichbar.

      Ihr Entsetzen war plötzlich wieder da. Es ließ sie konfus werden, hilflos den auferstandenen Gespenstern ausgeliefert. Sie würde nie mehr irgendwo hinunter schauen können. Sie sah sich selbst nach hinten kippend, fallend, in rasendem Tempo dem Tod entgegen, klar erkennend: Das war das Ende, Schmerz und aus. Die scharfen Bergzacken genau unter ihr, sie sah sich zerbrochen, im nächsten Augenblick nicht mehr menschenähnlich am Fuße der Zacken liegen. Ich – das ist Menschenkörper – das ist Hände zum Greifen, Füße zum Gehen, Sinnliches, der Geschmack einer Zitrone, der Geschmack von Fleisch und Matzes, der Duft von Veilchen, die Frühling bedeuten, Hühneraugen und Müdigkeit. Das ist Ich, und nachher ist vielleicht der Geist im Raum geblieben, aber der Körper ist zerschmettert. Der größte Teil vom „Ich“ ist damit ausgeschaltet. Etwas, das warm gewesen, wurde kalt, zu hilflosem Stein. War da noch ein Rest? War noch etwas von Tante Ida da? Sie wusste nicht ob dieser Gedanke zu Ende gedacht werden sollte…

      Der Moment, als Tante Ida stürzte, kam immer wieder. Unaufgefordert stand das Bild hinter ihren Augen und zog einen Krampf im Magen nach sich, sowie dieses Gefühl von Überforderung und Ausweglosigkeit.

      Die Wand, die Wohnung, die Suche waren eine Folge des Todes, des Sturzes vom Bergpfad – denn sie stand in Tante Idas Wohnung.

      Tante Ida hatte gesammelt. Und Esther musste den Schmuck finden, kostbaren Schmuck, den Tante Ida immer sorgfältig versteckt hatte. Sie musste durch diese Mauer durch. Da ihr die Trompeten fehlten, um sie zum Einsturz zu bringen, Gott gerade Pause machte und sie auch keinen Bagger hatte, musste sie das Problem selbst lösen, wie sie immer alle Probleme gelöst hatte, der kleinen Ida zuliebe.

      Die kleine Ida war ihre Cousine, sowie die alte Ida Schwester ihrer Mutter war. Beide trugen den gleichen Namen. Die kleine Ida war immer schon ihr Schützling gewesen. Ein dunkles Gefühl von Mutterschaft trieb sie, immer für die kleine Ida zu denken, zu tun, zu planen und jetzt den Schmuck aus diesem Berg zu holen, aus dieser Arche der Einkäufe.

      Die Wohnung war riesengroß und Esther wusste, dass Tante Ida sich nicht gerne von irgendwas getrennt hatte. Immer schon hatte sie aufgehoben, was sie heimtrug, alles, ohne Ausnahme. Jetzt war Esther einige Jahre nicht mehr in der Wohnung vorbeigekommen. Die Barrieren waren gewachsen.

      War das Messietum? Esther kannte liebenswerte, ein wenig chaotische Messie-Menschen, die sich nicht trennen konnten, weil immer alles in Planung war, weil sie einfach keine Entscheidung treffen konnten. Die Dinge wurden gebraucht, weil dies oder jenes damit gemacht werden sollte. So war das bei Tante Ida nie gewesen. Nein, die Dinge waren nicht verplant, nicht für Tätigkeiten gedacht. Da war eher ein Drang, etwas einzuholen, wie wenn sie ein großes Schleppnetz ausgelegt hätte. Alles, was sich darin fing, war ihres. Sie trug es heim, scheinbar ohne irgendeinen Plan, was damit gemacht werden könnte.

      Und wie bitte sollte Esther in diesem gewaltigen Depot die Wertsachen finden? Sie ringelte sich durch eine schmale Passage, die in dem hallenartigen Vorzimmer geblieben war. Die Passage führte sie in eine wirklich große Küche. Die Türe ging nicht ganz auf, und Esther hatte in Erinnerung, dass man niemals mit Gewalt eine Türe in diesem Haus aufschieben sollte. Niemals! Denn hinter der Türe könnte ein Papierstoß umfallen und man war gefangen. Sie spähte ums Eck. Natürlich war ein riesiger Papierstoß im Weg. Die Mitte des Raumes wurde von einem mächtigen Tisch eingenommen, der etwa einen halben Meter hoch mit Papier bedeckt war, anscheinend nicht zu Stößen geordnet. Da und dort machten sich kleine Haufen aus der Masse davon.

      Sie hob vorsichtig einen kostbaren Seidenvorhang vor einer Etagere auf. Dort stand in Tante Idas eckiger Schrift `Fetzen zum Wegwerfen´. Sie ließ den Vorhang vorsichtig zu Boden gleiten. Neben der Küche war ein palastartiges Badezimmer aus weißem und schwarzem Marmor. Hier stand in großen Körben Wäsche, viel Wäsche. Auf mehreren Sesseln und kleinen Tischen lagen hohe, wackelige Stöße von Katalogen. Eine Wand war mit Plastikbehältern zugestapelt. Sie waren voll. Die hatte es beim letzten Mal noch nicht gegeben. Unter dem Waschbecken wurden Zeitungen gesammelt. Viele Zeitungen. Sie waren in den Jahren zu drei Stößen von je einem halben Meter angewachsen, gelegentlich durchfeuchtet, hatten sie sich zu einer Masse zusammengebacken, leicht gelblich, mit gewelltem Rand. Drei Kästen enthielten Kartons mit nie verwendeten Föhnen, Super-Haarstyling-Sets, Kerzenleuchtern und Schwimmreifen, Badematten usw.

      Und wieder kam der Schrei. Scharf und panisch drängte er sich vor. Eine Mahnung an das Leben. Sie spürte ihn eiskalt im Nacken.

      Er hallte von den Bergwänden wieder, war aber neben ihr im Badezimmer und war sehr stark. Viel stärker als der kleinen Brust von Tante Ida zuzutrauen gewesen wäre.

      Die nächste Türe hatte früher ins Schlafzimmer geführt, - in einen mächtigen, ziemlich düsteren Raum, wie sie sich erinnern konnte. Es schien weiterhin Schlafzimmer gewesen zu sein. Das gewaltige Doppelbett stand auf einer Stufe und beherbergte Puppen. Sie füllten das Bett. Wo sollte da jemand schlafen? Alle hatten teure Gewänder an und glupschten mit ihren gläsernen Augen aus den Falten der Spitze und des Brokates. Einige waren sorgfältig zugedeckt und saßen dicht nebeneinander, fest eingepackt zwischen Decke und Polster, sie steckten fest in ihrem Kokon. Einige waren perfekte Babyrekonstruktionen, die Esther die Gänsehaut über den Rücken jagten. Tote Babies, die wie lebendig aussahen. Andere waren kleine Mädchen in schönen Kleidern. Es gab keine kleinen Jungen.

      Der Rest des Raumes war voll mit Kartons und Truhen, übereinander gestapelt. Es gab noch mehr Puppen, vielleicht nicht die bevorzugten, nicht die Elite, denn sie waren nicht im Bett. Sie hatten aber auch kostbare Gewänder an. Einige Teddybären lagen herum und schauten aus den Kästen, vielleicht die Haustiere?

      Das war wohl der Raum, in dem die wesentlichen Dinge aufbewahrt wurden. Sie würde hier ihre Suche beginnen. Zuerst wollte sie