Sanne Prag

... und dann geschah es


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hieß. Es war ein großes Anwesen und hatte seit Jahren zum Verkauf gestanden, zu einem Fixpreis. Dieser Fixpreis war vor Jahren teuer gewesen, jetzt war er normal.

      Esther hatte neu gelernt, dass wenig finanzielle Einschränkungen zu beachten waren. Ida hatte ihr Zugang zu allen Konten übertragen, nur wusste sie nicht, welche Konten es gab. Während Esthers Engagement in ihrer alten Firma im Auslaufen war - sie hatte noch Resturlaub - hatte sie sich umfassend mit den Aufgaben eines Steuerprüfers auseinandergesetzt und sich in mühsamer Kleinarbeit über die Finanzlage klug gemacht.

      Außer den Einkünften aus der Fabrik und einigen Tochtergesellschaften an entfernten Orten gab es Gelder, die sich unbeobachtet seit mehr als zwanzig Jahren durchs Finanzsystem geschlängelt hatten. Es waren immer neue Konten aufgetaucht. Eine Bankverbindung in die Schweiz, noch vom alten Aaron, und ein Konto in Lichtenstein, auch vom alten Aaron eingerichtet. Keine Kontobewegung seit über zwanzig Jahren. Dort schlummerten Riesensummen vor sich hin und mussten noch mit Idas Unterschriften umgelagert werden. Mehrere Bankschließfächer gab es. Esther war absolut unsicher, dass sie alle gefunden hatte. Manche enthielten gar nichts, manche Aktien. Eins hatte Zertifikate in großen Paketen, die auch mindestens zwanzig Jahre dort geschlummert hatten. Sie waren inzwischen völlig wertlos. Aber eines der Depots hatte eine große Schmuckschatulle enthalten, in der auch ihr Zauberring war. Sie musste Ida bitten, dass sie ihn haben durfte.

      Jetzt standen sie vor einer Ansammlung sehr gerader Häuser. Es war so etwas wie ein alter Meyerhof. Mächtig, selbstbewusst, abweisend. Die Gebäude sahen nach dicken Wänden aus. Hinter der Eingangstüre stellte Esther fest, dass die Außenmauer einen Meter zwanzig tief war. Draußen war es warm, in der Sonne heiß. Drinnen fühlte es sich kalt an, frostig. Ida schlenderte hinter Esther her und betrachtete den steinernen Boden. Dann drehte sie sich um und ging wieder hinaus. Esther schaute kurz in die riesige Wohnküche und in eine mächtige Speisekammer. Dann ging sie auch wieder hinaus. Ida stand versunken vor dem Haus und betrachtete die Fenster im Oberstock.

      „Was meinst du?“ fragte Esther.

      „Schau einmal, die Fenster da oben.“ Die Fenster glitzerten seltsam, das alte Glas bildete farbige Muster. In der Sonne zeigten sich glänzende Schlieren. Ida hatte wieder etwas gefunden, warum sie dieses Haus kaufen wollte.

      Esther drehte sich um und ging auf ihre Vernunfttour.

      Im Gang legte sie die Hand auf die Wände. Sie waren nicht fühlbar nass. Keine weißlich pelzigen Gewächse wie letzter Schnee auf dem rauen Putz. Im ersten Stock waren ein großer Vorraum und sehr viele Türen zu Zimmern, die sie jetzt nicht anschauen musste. Eine wacklige Treppe führte aufs Dach. Sie öffnete eine löchrige, enge Türe und stand in einem Riesendachraum, gewaltig, drei Stockwerke hoch. An Schnüren sah sie noch einige Tabakblätter, die Reste der letzten Ernte vor vielen Jahren. Sie betrachtete die Balken genau. Keiner schaute verfault aus. Die breiten Holzbohlen unter ihren Füßen waren auch nicht verfärbt. Es schien keine Löcher im Dach zu geben, es würde keine große Renovierung zu erwarten sein. Riesige schwere Balken ohne Fehler.

      Esther wanderte in den Keller.

      Der war völlig leer und schien einfach aus Beton zu sein, besenrein. Keine nassen Wände, leer. Nur in einem der vielen Räume gab es eine mächtige Wasserzisterne. Groß und rund, wie ein Schwimmbecken. In etwa einem Meter Tiefe konnte man einen weißlichen Kalkbelag sehen. Das Becken war in den Boden eingelassen. Der Rand ragte nur etwa sechzig Zentimeter hoch.

      Als sie wieder nach oben kam, war Ida nicht da.

      Esther sah in der Nähe einen anderen Bauernhof. In der Hoffnung auf Information wanderte sie dorthin. Ida würde warten.

      Sie öffnete das knirschende Hoftor und rief einen Gruß. Keine Antwort. Als sie hineinging, sah sie eine alte Frau, die sich die Füße in einem Plastikbecken wusch. Esther ging zu ihr. Die Frau sah von der Nähe gar nicht so alt aus. Aber sie blickte nicht auf.

      Esther grüßte und bekam keine Antwort. Vielleicht hörte die nicht?

      Aber Esther probierte es hartnäckig noch einmal: „Wir überlegen, das Anwesen neben ihnen dort drüben zu kaufen. Ich hätte gerne gewusst, mit welchen Problemen sie hier so täglich zu kämpfen haben?“

      Da sah die Frau auf ihre Füße und sagte: „Während man gierig Dinge an sich nimmt, seine Macht vergrößert, kann man nicht zuhören, nicht wahrnehmen. Die Dinge, die man wissen sollte, erfährt man nicht.“

      Esther hätte eigentlich gerne etwas über Probleme mit der Post oder dem Stromnetz gewusst. Wasser war nicht so wichtig, würde in dieser Region nicht wirklich ein Mangel sein. Sie blickte auf die Füße der Frau, die aussahen wie alte Wurzeln. Sie waren recht dunkel, und die Zehen krümmten sich schwarzblau übereinander. Erschreckend, wenn man damit gehen und arbeiten musste.

      Es kam nichts weiter, kein Wort.

      Als sie zurückkam, saß Ida auf einem Stein im Hof. „Wie geht’s dir mit dem Haus?“ fragte Esther.

      „Ja“, sagte Ida still, „ich will es“. Das war ein Entschluss. Das war keine Frage. Die Würfel waren gefallen.

      Esther kümmerte sich um den Ankauf. Man zog gleich ein, während noch die Badezimmer modernisiert wurden, und dann kam der Sommer. Man begann, sich häuslich einzurichten.

      VORMITTAG, WOCHEN SPÄTER

      Esther fragte sich gerade, ob sie wirklich in den Jahren alt geworden war. Vielleicht wurde sie tatsächlich eine frustrierte und eremitische alte Jungfrau? Die Vergangenheit kroch ihr gerade nach, zeigte sich wie ein schleimiges Gespenst auf Rachetour. Gottes Mühlen waren ganz langsam unterwegs, aber sie holten sie dennoch ein. Natürlich hatte sie immer das Beste gemeint, aber das sagen sie alle.

      Vor ihr saß Gottes Strafe. Strafe für welche Vergehen? Für alle. Für jedes einzelne.

      Da sprach ihr Gegenüber mit einschmeichelnder Stimme: „Nun ja, ein bisschen überreif bist du schließlich schon, es war schon wichtig, dass du dich hierher flüchtest in ein ruhiges Leben. Du warst immer der reife Typ. Es wäre vielleicht auch wichtig, dass du dich um einen Mann umsiehst.“

      „……und sei er noch so schäbig“ vollendete Esther tapfer und voll Widerstand. Nein! Sie lief jetzt nicht zum nächsten Spiegel. Heute früh war es noch nicht so schlimm. Nur ein ganz kleines Viertelstündchen Pause mit einem Spiegel und einer Antifaltencreme. Und alles wäre wieder im Lot. Ihr fiel der schwarze Schnurrbart ein, den sie immer wieder harzen musste, und der kleine braune Fleck, der nach einem Sonnenbrand geblieben war.

      Gerade da vernahm sie laut und deutlich die Worte „Warum du diese scheußlichen Vorhänge da hingehängt hast, ist mir ein Rätsel“. Die Stimme war in dem Moment nicht schmeichelnd. Eher scharf ging es weiter. „Gottseidank habe ich Zeit, ich werde mich um das hier kümmern“, meinte Tante Tina - Christina - entschlossen. „So ein großes Haus muss richtig geführt werden“, sagte sie abschließend und endgültig. Esther war starr vor Schreck. Sie hatte angenommen, das wäre ein Tagesbesuch. Die Panik krallte sich in ihr Herz. Was sollte sie tun??

      Vielleicht hatte der kürzlich überstandene Schock, die Begegnung mit dem Tod sie mehr mitgenommen, als sie dachte. Ihre praktischen Fähigkeiten waren lahm gelegt, hatten sie verlassen, waren einfach weg. Sie verharrte im peinlichen Moment und war absolut hilflos. Ihr Körper war zugeschnürt, nicht das kleinste Wörtchen konnte über ihre Lippen piepsen und sie spürte, wie Abschiedsschmerz auf ihren Rücken kroch. Denn gestern noch hatte sie mit Ida glücklich festgestellt, dass es in ihrer Wiese hinter dem Haus Heuschrecken gab. Eine glückliche Wiese, zwei glückliche Kinder – aus der Traum?

      Die Stimme neben ihr plante weiter. „Natürlich muss ich gutes Personal einstellen und den überflüssigen Mist hinauswerfen. Der Garten schaut schrecklich aus“, stellte Tante Tina fest, die dritte Schwester. Esthers Mutter war die älteste gewesen und Tante Ida war die Jüngste, und sie, die da vor Esther saß, war die Mittlere. Und sie wollte einziehen, sie wollte sich einfach einnisten und das Glück kaputt machen.