Sanne Prag

... und dann geschah es


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in ihn hinein. Esther rannte nach oben, um eine Decke zu holen. - Da sprang die Anlage wieder an. Während sie die Decke im Arm nach unten lief, telefonierte sie mit der Rettung. Hille lag noch immer blass auf dem Boden, aber er schien zu atmen. Alle drei massierten seine Gelenke, da murmelte Hille: „Wer hat mich gestoßen?“ Sie wickelten ihn fest in die Decke und trugen ihn auf einem Brett nach oben. Als die Rettung kam, lag er dicht eingepackt im sommerwarmen Hof.

      Der Hergang wurde hinterfragt. Wer konnte das wissen? Fest, viel getrunken, in die Zisterne gefallen. War das die Wahrheit? Es war eine Wahrheit, eine mögliche Wahrheit. Was waren die anderen?

      Wer konnte Hille gestoßen haben? Ezra war verwirrt. Hille war einfach, Hille war harmlos, und er trank zu viel, immer. Er verlor regelmäßig seine Gleichgewichts-maschinerie, bei jedem Fest. Das wussten alle. Meistens fand man ihn am Ende des Abends jeweils an einem entlegenen Ort. Es war schon Routine, dass sie nach einem Besäufnis zu später Stunde vor dem Heimfahren Hille suchen gingen, um ihn unschädlich zu lagern. Sie wären auch heute gegangen, das wäre aber sicher viel zu spät gewesen. Für sie, für den Abend und für Hille. Ezra hatte einen kalten Rücken und einen feuchten Klumpen im Magen und einen riesigen Bedarf an Erklärungen. Wer wollte gerade Hille umbringen und wer hatte ihn gerettet? War der im ersten Stock fürsorglich und hilfreich? Hatte er die Anlage abgeschaltet? Oder war der Hausgeist bösartig und hatte er versucht, Hille zu ersäufen? Oder war Hille Opfer einer ganz anderen Person geworden?

      Hille wurde ins nahe Unfallkrankenhaus gebracht und der Notarzt versicherte allen, dass sie gar nichts tun könnten. Morgen könnten sie nachfragen. Bedrückt gingen alle schlafen. Der Mond schien warm. Man öffnete die Fenster.

      FRÜHER MORGEN

      Der Schlaf dauerte bis halbsechs in der Früh. Dann brach ein Höllenlärm los. Zuerst gab es sehr laute Frühnachrichten, dann war das Schieben von Möbeln im Vorraum zu hören, mit Pumpern und Knirschen. Es wurden Nägel eingeschlagen. Und eine quietschende Türe im Hof etwa fünfzig Mal auf und zu gemacht. So fühlte es sich für Ezra zumindest an. Jedes einzelne Geräusch hatte ein Echo in den Gelenken, im Kopf, im Magen. Er tauchte in die Tiefe und wieder hoch und wieder in die Tiefe. Viele Male hatte er das Gefühl: Jetzt ist es vorbei. Jetzt kehrst du in die stille Landschaft zurück, die dich zärtlich aufnimmt. Und dann wieder hoch in die wild tosenden Wasser des Alltags, der etwas von ihm wollte. Er überlegte, ob er sich splitternackt mit dem Ungeist konfrontieren sollte, versprach sich aber schließlich nichts davon, vielleicht Kastration, aber keinen Sieg in seinem Zustand. In seidenweichen Blümchenshorts – einem Geschenk von Mutter – begab er sich teilweise reaktionsfähig aus seinem Schlafzimmer auf den Kampfplatz. Im Hof traf er auf eine große, runde Gestalt im Nachthemd, die gerade einen laut scheppernden Kessel an einem Seil in die Hofmitte zog.

      „Was ist los?“, presste Ezra heraus, und es war eine Kunst, die Worte hochzubringen und den Rest unten zu behalten.

      „Ich habe nichts übrig für Leute, die ihr Leben verschlafen“, sagte Tante Tina laut - zu laut. Ezra wählte eine stille Form des Angriffs. „Ich sehe, sie ziehen einen Kessel über den Hof, um besonders viel Lärm zu machen.“

      „Ich hatte auch keine gute Nacht“, sagte Tante Tina, indem sie auf ihn zuging, „aber ich bereite dennoch ganz alleine alles vor, damit Ordnung herrscht, wenn meine Freundin kommt.“ Sie stand ganz knapp vor Ezra und überragte ihn um einen halben Kopf.

      Was für eine Freundin kommt? Er musste Esther finden. Die hatte nichts davon gesagt. Er drehte sich um und ging. Ohne Höflichkeiten. Esther konnte das nicht verschlafen haben. Auf der Treppe traf er Jörg und Hubert, die wollten fahren – sie hatten Kopfweh und genug vom Lärm. Sie waren fertig angezogen und hatten ihre Sachen gepackt. Konnte er verstehen, aber sie alle waren in nur einem Auto gekommen. Ja, er würde sie dann zur Bahn bringen. Vielleicht sollten sie noch ein bisschen in die Wiese schlafen gehen. Wo war Esther? Er klopfte an Esthers Türe. Im Hof hallte Hammer auf Kessel. Sie öffnete fertig angezogen. Er huschte ins Zimmer. Esther war eine attraktive Frau, aber schließlich kannte sie ihn auch in Badehose, jetzt in Blümchenshorts.

      „Was tun wir?“, fragte er heiser. Er hatte das Bedürfnis, verschwörerisch zu wispern, ließ das aber bleiben bei dem Lärm im Hof.

      „Keine Ahnung.“ Die sonst so tüchtige, umsichtige Esther war ratlos.

      „Sie sagt, sie muss für ihre Freundin alles vorbereiten.“

      „Welche Freundin?“

      „Ich habe gedacht, du weißt davon?“

      „Nein, keine Ahnung. Da kann nur Ida etwas regeln“, sagte sie hilflos.

      „Dann sprechen wir einmal mit Ida.“

      „Das geht nicht, die schläft noch.“

      „Die schläft noch! Wie soll das gehen?“

      „Wenn es unangenehm wird, geht Ida immer schlafen. Sie rollt sich ein und weg ist sie. Je unangenehmer, desto fester schläft sie.“

      Ezra tauschte die Blümchenshorts und fuhr zum Bahnhof, um Jörg und Hubert abzuliefern. Hille und Spital würde er am Nachmittag machen.

      VORMITTAG

      Um 11.30 Uhr war es dann so weit. Ein Taxi rollte in den Hof. Ihm entstieg ein schwitzender Fahrer, der sich mit einem großen Tuch Stirne und Hals wischte. Sein Fahrgast war eine ältere Dame, sehr dünn und klein. Auf dem Rücksitz neben ihr lagen einige größere Taschen und andere Behältnisse, und wie es schien, eine große Rolle Bettwäsche. Der Rücksitz war ziemlich voll, übervoll. Ezra erwartete, dass beim Öffnen der Türe eine Kaskade aus dem Auto brechen würde, und schaute gespannt. Der Taxifahrer strebte auf ihn zu. Ezra nahm ihn mit in die Küche, um ihm etwas zu trinken zu geben. Während er die Limonade anrührte und mit Eiswürfeln versah, fragte er scheinheilig: „War es sehr schlimm?“

      Das half, der Staudamm brach. „Zuerst hat sie festgestellt, dass ich rauche und dass nicht einzusehen ist, warum sie sich den Gestank antun soll, dass ich ihrer Gesundheit schade. Es gibt kein anderes Taxi, so kam sie mit allen Sachen, wirklich mit allen. Sie muss eine große Wohnung haben und die hat sie ausgeräumt. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um alles reinzukriegen“, fauchte er wütend. Er nahm die Demütigung für sein Fahrzeug sehr übel. „Dazu hat sie aus irgendeinem Grund verweigert, etwas auf den Vordersitz zu stellen. Als ich es versuchte, weil ich es hinten nicht mehr hineinbekommen habe, hat sie gesagt `Das würde ihnen so passen, junger Mann´, keine Ahnung was sie damit gemeint hat.“ Er war gekränkt, obwohl er wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, dass der Vordersitz wegen Diebstahl nicht in Frage kam. „Dann haben wir in den zehn Minuten Fahrt die Fenster vorne, hinten, rechts und links in allen Kombinationen auf- und zugemacht, weil sie so empfindlich ist.“

      Gerade kamen quiekend singende Stimmen aus dem Haus. „Tinchen, mein Tinchen. Du hast an deine arme, kleine Freundin gedacht.“

      Dann die tiefe Stimme von Tante Tina. „Das schönste Zimmer für dich, mein Röschen.“

      „Ich hoffe, Sie kommen sie bald wieder holen“, meinte Ezra.

      „Nicht ich, sagte der Taximann entschlossen. Das soll ein Anderer machen.“ Er führte die Hand leicht grüßend an den Hut und ging.

      Er war aber gleich wieder da. „Die Damen sagen, ich soll zu Ihnen wegen zahlen“, meinte er. Ezra fühlte sich nicht dazu berufen und ging Esther suchen. Esther saß hinter dem Haus mit einem gesunden Brot, an dem sie lustlos kaute. Sie hatte gerade wieder Diät - auf die kleine Unzufriedenheit kam es auch nicht mehr an.

      Ezra teilte ihr das Problem mit.

      Es wurde wortlos behoben. Was sonst? Ida war noch immer nicht zu sehen. Im Hof lag ein gewaltiger Haufen Gepäck von „Röschen“. Und Ezra beschloss, sich davonzumachen, bevor eine der Damen auf die Idee kam, ihn als Kofferträger zu benützen.

      MITTAG