starre durch die Glastüren in die Lobby, in der sich viele Frauen und Männer hin und her bewegen oder vor den Fahrstühlen warten, bis sie mit einem der drei Aufzüge nach oben fahren können.
Plötzlich fühle ich mich um einige Jahre zurückversetzt und sehe mich, wie ich auf das nicht mehr ganz so weisse Schulhaus zugehe, in dem ich meine nächsten zwei Jahre verbringen werde. Jenes Haus, in dem ich meine obligatorische Schulzeit zu ende bringen werde. Viele mir fremde Gesichter sehen in meine Richtung, während ich mit unsicheren Schritten auf die Treppe zugehe. Teenager, Junge wie Mädchen verziehen ihre Münder und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen miteinander, als ich näher komme.
„Wollen Sie nicht endlich hineingehen?“
Erschrocken drehe ich mich zu der mir bereits bekannten Stimme um, die mich soeben aus meinen trüben Erinnerungen holte. „Wie?“
„Macht Ihnen dieser kalte Wind etwa nicht zu schaffen?“ fragt mich Rose Morgan etwas verwundert und zieht sich ihren Schal ein klein wenig enger um den Hals, damit die frostige Kälte nicht an ihre Haut gelangt. „Kommen Sie, Ihr neuer Vorgesetzter wird sicher schon auf Sie warten. Mr. Baker ist nämlich immer einer der ersten und kann es ausserdem nicht ausstehen, wenn man unpünktlich zur Arbeit erscheint.“
„Dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren.“ Ich gehe neben Mrs Morgan durch die Drehtüren. Sie geht auf den Empfang zu und unterhält sich kurz mit der Dame dahinter. Daraufhin händigt mir die Frau mit den lockigen, blonden Haaren hinter der langen Theke einen Ausweis aus, damit ich von nun an ohne mich jedes Mal anmelden zu müssen, in die oberen Stockwerke gelange.
„Bitte weisen Sie den jeweils vor, wenn Sie nach oben wollen.“ Rose Morgan zieht ihren eigenen hervor und zeigt ihm dem Mann, der vor den Fahrstühlen Wache steht. Ich mache es ihr gleich und augenblicklich gehen die Fahrtüren auf und wir steigen ein.
„Sie brauchen nicht nervös zu sein.“ Sie blickt auf meine Finger, die ich unbewusst ineinander verkeilt habe und lächelt mich an. „Schliesslich haben Sie den Job schon längst in der Tasche.“
„Ich weiss. Obwohl sich meine Arbeit hier von meiner letzten nur in wenigen Dingen unterscheiden wird, ist das was auf mich zukommt trotzdem etwas Neues. Ich kenne keinen Menschen. Ich habe keine Ahnung, wie mich meine neuen Mitarbeiter aufnehmen werden und ob ich wirklich die Leistungen bringen werde, die Mr. Meyer von mir erwartet.“
„Was kann schon schieflaufen?“ Die Frau neben mir, die mir nun schon so oft moralische Unterstützung gegeben hat, sieht mich fragend an. „Sie können sich nicht mit allen gleich gut verstehen. Das kann niemand. Aber die Mitarbeiter von Meyer Enterprises sind wie eine Grossfamilie. Alle wurden persönlich von Damian“ Sie spricht diesen Namen auf eine Art aus, als wäre es ganz natürlich unseren Chef mit Vornamen anzusprechen. „eingestellt und wenn irgendwer denkt, er könne ihn hinters Licht führen oder einen anderen Kollegen mobben, fliegt dieser jemand schneller aus der Firma, als ihm lieb ist.“
Ihre Worte dringen tief in mein seelisches Empfinden, aber sie können meine Ängste und Zweifel, die mich schon seit Monaten verfolgen, nur ein klein wenig schmälern.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fährt sie fort: „Ausserdem kennen Sie ja mich. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie irgendein Problem haben oder jemanden brauchen, um sich auszusprechen. Egal was.“
In den wenigen Momenten, in denen ich dieser Frau begegnet bin, hat sie mich jedes Mal freundlich und liebevoll behandelt. Wie oft in meinem Leben habe ich mir schon gewünscht, solch eine Mutter zu haben, die mir hilft meinen richtigen Platz im Leben zu finden und mich in allen Belangen unterstützen würde? Ich habe keine Ahnung. Aber seit dem Tag, an dem meine Mutter mich und meinen Vater einfach im Stich gelassen hat, verging kein einzelner Tag, an dem ich nicht wünschte, eine solche Person wie Mrs Morgan an meiner Seite zu haben.
Mein Vater ist der beste, fürsorglichste und einfühlsamste Dad, den man sich überhaupt erträumen kann und doch hat in all den Jahren meiner Kindheit die Wärme einer Frau gefehlt, die Stimme und das Lächeln einer liebenden Mutter.
„Miss Weber?“
„Ja?“ Ich blicke Rose Morgan fragend an.
„Zeit für Sie auszusteigen.“
Die Aufzugstüren sind bereits geöffnet, wie ich erst jetzt feststelle und sehe mich verlegen über meine Schultern nach Mrs Morgan um, als ich in den langen, hellen Flur hinaustrete.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Start.“ ruft sie mir noch schnell zu, bevor sich die Türen wieder schliessen.
„Danke.“ und hebe die Hand zum Gruss.
Ich habe wackelige Beine und mein Herz flattert. So aufgeregt und zugleich erwartungsvoll habe ich mich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Genau genommen seit dem Tag nicht mehr, als ich die Stelle in einem grossen Schweizerkonzern als Abteilungsleiterin der Buchhaltung bekommen habe. Jenen Arbeitsplatz den ich geliebt und erst vor wenigen Wochen gekündigt habe, um mich aus meinem alten Leben befreien zu können, das sich in letzter Zeit in ein einziges Chaos verwandelt hat.
Mein Büro das ich mit einer gleichaltrigen Mitarbeiterin teilen werde, liegt nur einige Schritte vom Fahrstuhl entfernt. Mr. Baker zeigte mir den Raum bei unserem Gespräch, das mittlerweile etwas mehr als einer Woche zurückliegt.
Ich atme nochmals kurz tief durch und wappne mich für meinen ersten Arbeitstag bei Meyer Enterprises. Der geräumige Raum, in dem zwei grosse Schreibtische einander gegenüber stehen, ist noch leer. Meine neue Mitarbeiterin, ich glaube ihr Name ist Mira oder so, ist offenbar noch nicht erschienen. Also lege ich erst einmal meinen Mantel ab und hänge ihn an die Garderobe, die gleich neben der Tür steht.
Ich gehe an das über zwei Meter grosse Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht und lasse meinen Blick über die Stadt und in die Ferne schweifen, wo ich sogar die Themes ausmachen kann und sehe, wie sie sich durch London schlängelt. Aber auf die Strasse unter mir, riskiere ich keinen Blick, sonst werde ich noch von Schwindel befallen. Schliesslich befinde ich mich im fünfundvierzigsten Stock, knapp hundertfünfzig Meter über Boden. Ich hätte mir niemals ausmalen können, irgendwann in dieser Höhe zu arbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass ich mal in London leben werde. Und jetzt bin ich hier.
Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und frage mich, was ich nun machen soll. Soll ich hier warten, bis endlich jemand kommt und mich in meine neuen Aufgaben einarbeitet oder wäre es vielleicht klüger das Büro meines Vorgesetzten aufzusuchen? Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken und trete wieder in den Flur hinaus.
Während ich den Korridor entlanggehe, komme ich an anderen Räumen vorbei und lächle jedem zu, der mir einen Blick entgegenwirft. Als ich am Ende des langen Ganges in einen Vorraum vor Mr. Bakers Büro trete, erkenne ich die Frau wieder, die mich schon bei meinem Vorstellungsgespräch empfangen und sich als Mr. Bakers Sekretärin vorgestellt hat. Sie lächelt mir zwar zu, während sie von Bakers Tür auf mich zukommt, aber es erscheint mir genauso kalt, wie ihr Charakter auf mich wirkt. Schon bei meinem ersten Besuch hatte ich ein eigenartiges Gefühl bei ihr. Ich kann mir nicht erklären warum, aber sie erweckt in mir das eigenartige Gefühl, als müsse ich mich bei ihr in Acht nehmen. So wie bei Michael. Nur dass ich es bei ihm viel zu spät festgestellt habe.
Auch dieses Mal trägt sie ein makelloses Kleid. Ein Ensemble aus weisser Seide. Dazu passenden Schmuck, perfekt manikürte Fingernägel und ein stark geschminktes Gesicht. Was für meinen Geschmack, für den beruflichen Alltag, zu aufgedonnert ist. Und wieder frage ich mich, wie sie diese teuren Sachen leisten kann. Hat sie als persönliche Sekretärin einen derart guten Lohn, dass sie sich mit solchen Kostbarkeiten eindecken kann? Ich kann mir jedenfalls kein Bild davon vor Augen führen. Aber vielleicht bin ich ja einfach nur eifersüchtig auf sie. Was ich mir wiederum nicht erklären könnte.
„Sie haben den Job also gekriegt?“ fragt mich die Blondine in einem herablassenden Ton und etwas zu hoher Stimme. „Mr. Baker hat mich soeben informiert, dass Sie heute erscheinen werden und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er gleich Zeit für Sie hat. Nur einen kleinen Moment.“
„Danke.“ Ich bleibe stehen,