noch anwesend sein? Niemand ist so verrückt und geht an seinen freien Tagen arbeiten. Das musste ich schon einige Male von Mira anhören. Was ja im Grunde genommen auch stimmt. Aber für mich ist es der einzige Weg vor meiner Bedrückung und den schrecklichen Erinnerungen zu fliehen, die mich immer noch täglich einholen.
Ich streife meinen Schal ab und ziehe meine Handschuhe aus, die mich vor der eisigen Kälte beschützen, die ausserhalb des Wolkenkratzers herrscht und lege alles über die Garderobe. Während ich mir den Mantel aufknöpfe, trete ich ans Fenster und blicke auf die Stadt hinunter. Ich betrachte die funkelnden Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen, die fast an jedem Gebäude angebracht sind und die noch immer leuchten, weil der dichte Nebel die Dunkelheit nicht vertreiben lässt.
Nicht mal mehr einen Monat dann ist Weihnachten. Alle werden die Feiertage mit ihren Geliebten verbringen. Sie werden sich glücklich um einen Tisch versammeln und ein feines Essen geniessen, das die Mutter mit ihren Kindern zubereitet hat, während ich mich in diesem Raum aufhalten werde, weil ich zu grosse Angst habe, nach Hause zu meinem Dad zu gehen. Ich habe ihn nun schon seit über sechs Wochen nicht mehr gesehen. Das gab es in meinem ganzen Leben noch nie. Ich vermisse ihn. Auch wenn wir fast täglich miteinander sprechen, ist es nicht das Gleiche, wie wenn ich ihm in die Augen sehen könnte.
Deprimiert seufze ich auf und drehe mich um, um mich endlich an den Schreibtisch zu setzen und mich in die Arbeit zu stürzen. Gerade als ich einen Schritt nach vorne machen möchte, bleibe ich wie versteinert stehen und ein erschrockener Schrei dringt aus meiner Kehle, als ich den Mann entdecke, der im Türrahmen steht, der mich von oben bis unten mustert und dabei seine Stirn in tiefe Falten zieht.
„Was tun Sie hier?“ fragt er mich mit ernster Miene.
Plötzlich habe ich das Gefühl etwas Unrechtes zu tun, dass es verboten ist, am Wochenende hier zu sein. „Ich... ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Mr. Meyer.“ antworte ich ihm kaum hörbar. „Ich dachte ich wäre alleine und könnte etwas von der Arbeit aufholen, die liegen geblieben ist. Aber wenn sie das nicht möchten, werde ich wieder gehen.“ Sofort knöpfe ich meinen Mantel wieder zu. Doch bevor der letzte Knopf geschlossen ist, legt mein Chef seine Hand auf meinen Arm, woraufhin ich unverzüglich einen Schritt von ihm abrücke. Schreckliche Bilder flammen vor meinem inneren Auge auf. Meine Hände beginnen zu Zittern und stecke sie rasch in meine Manteltaschen, damit er mein Beben nicht sehen kann.
„Miss Weber, alles in Ordnung?“
Ich kenne den Ausdruck in seinen Augen. Schon so viele haben mich mit Blicken der Verständnislosigkeit angesehen. Ich ertrage dieses Mienenspiel nicht mehr und starre deshalb zu Boden. „Ich... Ja... Alles Bestens.“ Was sollte schon sein? Was sollte ich ihm sagen? Dass ich Angst hatte, er würde mich in seine Arme reissen, mich küssen und überall berühren, um mir danach einen Fusstritt in den Magen zu verpassen?
„Tut mir leid, wenn ich Ihnen das nicht abnehme, Miss Weber. Denn Sie erwecken den Eindruck, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“ Seine Stimme klingt sanft und irgendwie beruhigend, was mich veranlasst den Kopf zu heben.
Ich sehe direkt in seine braunen Augen, die mich eindringlich beobachten und die rein gar nichts mit den Augen gemein haben, die mich in jeder Nacht in meinen Albträumen verfolgen. „Es ist alles gut, wirklich Mr. Meyer.“ Wem versuche ich das einzureden? Ihm oder mir selbst?
„Bin ich Ihnen zu nahe getreten? Wenn das der Fall ist, möchte ich mich dafür entschuldigen. Das war nicht meine Absicht.“
„Nein. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Ich versuche an ihm vorbeizugehen, um den Schal und die Handschuhe von der Garderobe zu nehmen. Dabei mache ich einen grösseren Bogen um ihn, als wirklich nötig wäre. Doch zu meinem Erschrecken muss ich feststellen, dass der Abstand doch nicht genug ist. Denn schon wieder liegt seine Hand auf meinem Arm. Ich möchte mich von seinem stählernen Griff lösen, aber er gibt mich nicht frei. Beinahe gerate ich in Panik und Tränen drohen die Augen zu verlassen. Durch feuchte Augen sehe ich ihn an und bitte ihn leise mich loszulassen.
Augenblicklich lockert er seinen Griff, lässt mich aber nicht los. Von einer Sekunde auf die andere fühlen sich seine Finger nicht mehr wie Klauen an, die sich in meinen Arm bohren, sondern wie eine lautlose, tröstende Liebkosung. Mein Blick schweift von seinen Augen zu seiner Hand auf meinem Arm und wieder zurück. Lese ich etwa Mitgefühl in seinem Ausdruck?
Warum verspüre ich plötzlich das Bedürfnis von diesem Mann, den ich kaum kenne, beschützt zu werden?
Soeben noch wollte ich vor ihm fliehen, weil mich beinahe eine Panikattacke erfasste und nun wünsche ich mir nichts sehnlicher als von ihm gehalten zu werden, in seinen Armen zu liegen und meinen Kopf an seinen muskulösen Körper zu legen. Voller Hoffnung starre ich in seine wunderschönen Augen und male mir aus, wie es ist, von ihm umarmt zu werden, nur um im nächsten Moment bitter in die Realität zurückzukehren. Seine Finger streifen über meinen Handrücken und lassen mich schliesslich ganz los. Wo gerade noch seine Hand lag, fühlt es sich nun unbehaglich kalt und verlassen an. Unbegreiflich blicke ich ihn an.
Verlegen, wie mir scheint, fährt er durch seine kurzen, dunkelblonden Haare. „Ich werde Sie nicht länger belästigen und Sie Ihre Arbeit machen lassen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, ja?“
Ich muss mich räuspern, um einen Ton herauszubekommen. „Welchen?“
„Machen Sie irgendwann Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Werde ich, Mr. Meyer.“ Ich warte ab, bis er den Raum verlassen hat und sinke erleichtert auf meinen Stuhl hinab.
Müde, aber nicht erschöpft, reibe ich über meine Augen. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Mehr als vier Stunden bin ich an meinem Platz gesessen und habe ein Dokument nach dem anderen bearbeitet ohne eine Pause zu machen. Nur ein einziges Mal bin ich den Flur entlanggegangen und habe mir etwas zu trinken aus dem Automaten geholt, um gleich wieder an meinen Computer zurückzukehren.
Bedauerlicherweise meldet sich jetzt mein Magen, den ich nicht ignorieren kann. Also entschliesse ich für heute die Arbeit zu beenden, um irgendwo in einem gemütlichen Café einen kleinen Sack einzunehmen.
Gerne hätte ich mich noch länger mit den Rechnungen beschäftigt, die unverarbeitet auf meinem Pult liegen, denn mein Job macht mir richtig viel Spass, auch wenn es ganz einfache Aufgaben sind. Sie erfüllen ihren Zweck, weil sich mich daran hindern, an meine Vergangenheit zu denken und das ist momentan das Wichtigste was zählt.
Nur ab und zu wurde meine Aufmerksamkeit auf die Zahlen unterbrochen. In jenen Augenblicken schweiften meine Gedanken stets zur gleichen Person. Die attraktiven braunen Augen, die sich in mein Inneres bohrten und die angenehme Wärme, die sich auf meinem Arm ausbreitete, als er mich für wenige Sekunden mit seiner Hand hielt, liessen meine Erinnerungen an jenen Moment nicht mehr los. Auch jetzt schleicht mein Chef im Kopf umher.
Ich getraue mich nicht die aufkommenden Gefühle zu ergründen, die in mir emporsteigen und meinen ganzen Körper fesseln, wenn meine Gedanken zu meinem überaus charmanten Boss wandern. Aber sie lassen mich wieder etwas fühlen. Etwas was ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr empfunden habe. Hoffnung. Hoffnung auf bessere Zeiten.
Während ich darauf warte, bis mein Computer heruntergefahren ist, hole ich meinen Mantel, lege ihn um und knöpfe ihn zu. Danach ziehe ich meinen Schal über den Kopf, wobei mein Blick für eine Sekunde in der Dunkelheit verschwindet. Als ich meine Augen wieder öffne, kann ich einen angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken. „Wow, haben Sie mich erschreckt.“ und halte eine Hand auf mein bebendes Herz.
„Tut mir leid. Das stand nicht in meinem Interesse.“
„Schon gut. Ich bin eben etwas schreckhaft.“
„Das habe ich mittlerweile auch bemerkt. Vielleicht mögen Sie mir irgendwann den Grund dazu anvertrauen.“
Ich beisse auf meine Unterlippe, um nicht gleich meinen ganzen Ballast von der Seele zu reden, den ich schon seit Monaten mit mir herumtrage und der mich mit seinem Gewicht zu erdrücken droht. „Da gibt es nichts zu erzählen.“ gebe ich schliesslich von mir und nehme meine restlichen Sachen,