Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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mich trotzdem, wenn ich mir vorstelle, ich könnte ihn verlieren. Ich brauche ihn. Er ist mein Halt. Und meine Eltern wollen, dass ich mit ihnen meinen Bruder im Gefängnis besuche und in zwei Wochen hat er seine Verhandlung und wenn er rauskommt weiß ich nicht mal, ob er mir nicht wieder an den Kragen will.“

      Wie unter einem Zwang lasse ich meine Hand über die Narbe in meinem Nacken gleiten. „Und dieses ganze Gefühlschaos! Ich packe das einfach nicht mehr.“ Ich muss schlucken und blinzeln, um meine aufsteigenden Tränen zu kontrollieren.

      Erik lässt seine Hand sinken, die er um mich legen wollte.

      „Ich muss jetzt nach Hause und ich möchte, dass wir uns diese Woche nicht mehr sehen. Ich brauche etwas Abstand von dir, um mich und meine Gefühlswelt in den Griff zu bekommen. Und du … du kannst in Ruhe deine analysieren.“

      Ich werfe Erik einen schnellen Blick zu, der mich aber schon wieder in meinen Grundfesten zu erschüttern droht. Schnell sehe ich zur Seite und schlucke krampfhaft.

      Erik wirft seine Zigarette weg und starrt mich nur an. Ich nehme das aus dem Augenwinkel wahr und spüre, wie sein Körper sich erneut anspannt und zur bedrohlichen Größe wächst, wie es bei dem alten Erik bisher immer der Fall war.

      „Wenn du meinst!“, brummt er und versucht offenbar die aufkeimende Wut zu unterdrücken.

      Kurz macht er mir wieder Angst und ich sehe auf. Aber seine Augen wirken nur traurig, und das löst ein neues Chaos in mir aus.

      Es reicht. Ich nicke betroffen, drehe mich um, reiße die Wagentür auf und steige ein.

      Erik geht um den Wagen herum und ich lasse die Tür zuknallen. Das Geräusch erschreckt mich. Meine Nerven liegen blank.

      Er steigt auch ein, lässt den Motor aufheulen und zieht auf die Straße.

      Ich schnalle mich an, wage aber nicht, ihn zurechtzuweisen, weil er es nicht tut. Ich sehe aus dem Seitenfenster und fühle mich plötzlich innerlich wie tot. Es ist alles gesagt und ich möchte nur noch nach Hause. Ich halte dieses hin und her sonst nicht mehr aus.

      In Osnabrück, durch das wir fahren, ohne auch nur noch ein Wort miteinander zu wechseln, bitte ich ihn, mich zum Bahnhof zu bringen. Kurz will er etwas dagegen sagen, besinnt sich aber und nickt. Kurz darauf hält der Mustang auf einen der Taxiparkplätze, direkt vor dem Eingang des Bahnhofs. Wir fallen auf … mit dem dicken Zuhälterauto.

      Ich steige schnell aus, bevor Erik mich zu fassen kriegt. Die Bewegung dazu nahm ich hinter mir wahr. Aber sie verlief ins Leere. Ich beuge mich etwas runter, um ihn ansehen zu können. „Bitte sperre dich nicht wieder ein. Ich kann dich diese Woche nicht retten“, raune ich.

      Er sieht mich nur an und seine Hand sinkt ganz auf meinen leeren Sitz.

      „Mach´s gut und danke für den Nachmittag“, murmele ich noch und werfe die Autotür zu. Ich gehe über den Platz zu der riesigen Bahnhofstür und sehe mich noch einmal um. Erik sitzt in seinem Auto, dessen Motor einmütig brummelt und sieht mich nur an, scheinbar unfähig wegzufahren.

      Ich sage mir, dass er stark ist und mich vorher auch nicht brauchte. Er kommt schon klar … und trete durch die große Bahnhofstür in das Innere des Gebäudes und somit aus seinem Blickfeld.

      Im Zug versuche ich nicht daran zu denken, wie zufrieden Erik den Nachmittag über war und wie ich ihm zu guter Letzt von Marcel vorgeschwärmt habe - dass ich ihn brauche und es nicht ertragen könnte, ihn zu verlieren.

      Mir wird klar, dass ich Erik vielleicht damit verletzt habe. Er hatte mir gestanden, dass die One-Night-Stands eher eine Qual für ihn sind … und er hatte vor Ellen und Daniel ganz klar zu mir Stellung bezogen und sogar in der Schule, als er mir hinterhergelaufen war und mich in sein Auto trug. Das war für mich zwar peinlich, aber das eine oder andere Mädel hätte sich das gewünscht. Für jeden muss nach diesem Auftritt klar sein, dass er zu mir ein anderes Verhältnis hat als zu jeder anderen bisher. Aber ich wollte ihn nur noch loswerden und habe ihm sogar gesagt, dass ich die ganze Woche nichts mehr von ihm sehen oder hören will.

      Jetzt tut es mir schon wieder leid und zu meinem Entsetzen spüre ich, dass ich es gar keine Woche ohne ihn aushalte.

      Als ich in Bramsche aussteige, klingelt mein Handy. Ich ziehe es aus meiner Tasche und sehe, dass es Ellen ist. Ich nehme ab.

      „Carolin, alle klar bei dir?“ Sie klingt besorgt.

      „Ja“, raune ich nur.

      „Erik ist allein bei Daniel aufgelaufen und er ist gar nicht mehr gut drauf. Habt ihr euch gestritten? War er blöd zu dir, dann kann der was erleben!“

      „Nein, Ellen. Erik kann nichts dafür. Er war wirklich unglaublich lieb und süß. Es liegt an mir.“

      Oh Mann. Das war fast schon sowas wie eine Liebeserklärung. Aber jetzt, wo er so weit weg von mir ist, fühle ich es so.

      Einen Moment ist es still und ich frage mich schon, was Ellen wohl darüber denkt, dass ich ihren Bruder lieb und süß finde, als sie leise sagt: „Und warum bist du dann nicht mehr mit ihm mitgekommen? Er zeigt es nicht, aber der Erik von heute Nachmittag und der jetzt, das sind zwei völlig verschiedene Menschen. Er tut mir fast schon leid. Ich glaube, er hat sich vielleicht verliebt.“

      Mir bleibt das Herz fast stehen. Dass Ellen nun ausspricht, was ich in meinem tiefsten Inneren hören will und doch auch wieder nicht, das entsetzt mich doch. Ich bin mit Marcel zusammen und liebe ihn …

      Mehr zu meinem Schutz, raune ich: „Erik kann sich nicht verlieben. Schon vergessen? Und er kann sich nicht vorstellen, mit jemand viel Zeit zu verbringen und schon gar nicht zusammenzuleben oder morgens zusammen aufzuwachen. Erik ist nicht für so etwas geschaffen.“

      Abermals ist es einige Zeit still in der Leitung und als Ellen mir antwortet, weiß ich, dass sie eine stille Hoffnung treibt. „Was ist aber, wenn sich das jetzt doch geändert hat?“

      Ich stoße die Pforte zu unserem Garten auf und gehe durch den kleinen Vorgarten zum Haus. Leise raune ich: „Dann wird er schon die Richtige finden, die das alles mit ihm ausleben kann.“

      Schon als ich den Satz sage, bleibt mir die Spuke im Hals stecken. Verdammt, ich könnte das noch nicht einmal ertragen.

      In mir kriecht erneut eine Ahnung hoch, die ich mit aller Gewalt wegschieben will. Ich habe mich in Erik ernsthaft verliebt, in seine Art mich zu belagern, seine Geschichte und seine Art mich zu lieben.

      Als Ellen nicht antwortet, sage ich nur: „Pass bitte auf ihn auf. Ich muss erst mal für mich sehen, wie ich mein Leben in den Griff bekomme. Freitag muss ich mit meinen Eltern zu meinem Bruder fahren … ich weiß nicht mal, wie ich das überstehen soll. Bitte Ellen, lass mich diese Woche irgendwie überstehen und es wird wieder besser werden. Ich kann einfach nicht mehr.“ Ich kann meine Tränen nicht länger zurückhalten, die sich nun endlich einen Weg suchen und nach außen drängen. Ich schluchze auf und öffne die Haustür. Gut, dass Marcel nicht zu Hause ist.

      „Carolin, ist doch schon gut! Fang doch jetzt bitte nicht an zu heulen“, jammert Ellen betroffen. „Ich verstehe dich. Oh Mann, wie können die dich dort hinschleppen? Die wissen doch, was er gemacht hat. Ich würde den nie wiedersehen wollen.“ Ellen klingt völlig außer sich.

      „In zwei Wochen ist seine Verhandlung … und wenn er dann … rauskommt …“, stottere ich unter Tränen und sacke auf unser Sofa, aus dem Diego mich ansieht.

      Ich ziehe den Kater auf meinen Schoß und trockne meine Tränen an seinem Fell.

      „Wir verstecken dich! Du kommst zu uns, ja?“, ruft Ellen aufgebracht ins Handy.

      Von Schluchzern geschüttelt, antworte ich ihr mit jämmerlicher Stimme: „Nein, das geht nicht. Ich muss das mit Julian … selbst klären. Vielleicht … hat er sich … verändert?“

      „Aber wenn nicht, kommst du zu uns“, sagt Ellen mit Bestimmtheit. „Erik wird dich einfach mit in sein Panikreich nehmen und du bist sicher.“

      Mein Gott, ihre Worte