Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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zur Seite fallen und ziehe die Decke über meinen kalten Körper.

      Ich werde wach, als meine Mutter in mein Zimmer kommt. „Carolin? Willst du nicht ins Bett gehen?“

      Es ist dunkel draußen und im Fernseher läuft ein Krimi. Ich schaue verschlafen auf die Uhr und schrecke hoch. Es ist gleich halb elf. Marcel ist bestimmt schon zu Hause. Verdammt!

      Ich nicke meiner Mutter zu und wünsche ihr eine gute Nacht. Dann zücke ich mein Handy und schalte es ein. Wieder SMSen. Ich ignoriere alle, bis auf die von Marcel. „Schatz, wo bist du? Hast du den Zug verpasst? Soll ich dich holen kommen?“

      Oh, mein Gott! Mein Herz zieht sich zusammen. Was soll ich nur tun? Ihm schreiben? Ihn anrufen?

      Ich wähle seine Nummer und warte bis er abnimmt. Ein verunsichertes: „Carolin?“, dringt an mein Ohr. Seine Stimme versetzt mir einen Stich und eine Sekunde denke ich, dass ich ihm das nicht antun kann. Nur der Gedanke an seine schnelle Reaktion auf eine SMS von einem fremden Mädel lässt es mich doch durchziehen.

      „Marcel, ich bin bei meinen Eltern. Ich habe noch ein bisschen mit ihnen gequatscht und werde heute Nacht hierbleiben.“

      Es ist einige Zeit still in der Leitung und dann folgt etwas völlig Unerwartetes. Marcel brummt aufgebracht: „Du bist bei deinen Eltern?“

      „Ja.“

      „Und das soll ich dir glauben? Bei wem bist du wirklich?“

      Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Ich bin wirklich bei meinen Eltern.“

      Keine Sekunde hatte ich damit gerechnet, dass er das in Frage stellen könnte.

      Wut flackert in seiner Stimme auf, als er brummt: „Und wo warst du den ganzen Tag? Auch bei deinen Eltern?“ Er versucht seiner Stimme ein Stück Ironie beizumischen, was seine Worte nur noch bissiger klingen lässt.

      Ich weiß nicht, was die Frage soll. Marcel kann unmöglich wissen, dass ich nicht in der Schule war.

      Da ich nicht antworte, knurrt er: „Deine Ellen hat mir heute Mittag eine SMS geschickt, dass sie dich nicht erreichen kann und sich Sorgen macht. Also, wo warst du? Und erzähl mir keinen Scheiß!“ Seine Worte klingen wütend und kalt.

      Ich bin entsetzt. Ellen hatte ihm geschrieben? Woher hat sie seine Nummer? Als sie ihn an dem Drogensamstag anrief, da hatte sie das von meinem Handy aus gemacht und ich habe ihr niemals seine Nummer gegeben. Extra nicht.

      „Ich war nirgends“, antworte ich leise und versuche noch den richtigen Weg zu finden. Aber es gibt nur einen.

      „Carolin!“, raunt Marcel mit dumpfer, wütender Stimme. „Du sagst mir sofort, wo du warst … und bei wem!“

      Ich atme tief durch und antworte, meine Hand auf meinen Magen drückend: „Ich bin heute Morgen in Wallenhorst wieder ausgestiegen und bin einfach nur gelaufen. Ich musste darüber nachdenken, wie ich damit umgehen soll, dass du bei einer SMS von irgendeiner Tussi gleich anspringst und dich mit ihr triffst“, raune ich. „Wow! Super süß! Natürlich können wir uns treffen …, fällt dir dazu etwas ein?“

      Ich spüre regelrecht wie Marcel erstarrt. Damit hatte er keine Sekunde gerechnet.

      Als er wieder fähig zum Sprechen ist, stammelt er: „Süße, das war nicht so, wie du denkst!“

      „Es ist ja nie wie ich denke“, raune ich nur resigniert. „Aber ich glaube, langsam kapiere ich es auch mal. Also erzähl mir nichts und lass mich einfach in Ruhe. Ich muss wirklich erst mal einiges analysieren.“

      Eriks Spruch. Es versetzt mir einen Stich.

      „Carolin bitte! Das ist nicht so …“

      „Marcel!“, fahre ich ihn an. „Lass es einfach. Wir reden morgen. Und lass dir nicht einfallen, hier aufzukreuzen.“ Damit lege ich auf. Ich kann nicht mehr. Es fühlt sich alles falsch an. Vor allem mein Moralapostelgehabe.

      Ich schalte das Handy wieder aus, gehe zu meinem Bett und lasse mich in meine weiche Matratze fallen. Ich spüre Marcels Entsetzen und Traurigkeit, als wäre er bei mir und ich würde es live sehen. Aber vielleicht ist das der einzige Weg für ihn, es auch ertragen zu können. Wenn er erfahren würde, was ich mit Tim gemacht habe und vor allem mit Erik … wäre das nicht viel schlimmer für ihn?

      Ich rede mir das ein, weil es für mich so erträglicher ist. Wahrscheinlich wird mir mein schlechtes Gewissen deshalb eine unruhige Nacht bescheren.

      Aber ich schlafe dann doch besser, als ich dachte.

      Meinen Eltern tische ich am nächsten Morgen auf, dass ich erst zur dritten Stunde Schule habe und sie glauben es mir, ohne das weiter zu Hinterfragen. Das ist für sie schließlich auch ein erklärlicher Grund, warum ich überhaupt bei ihnen schlafen konnte. Damit fahren sie dann auch beruhigt zur Arbeit.

      Ich fahre allerdings nicht zur Schule. Tim schreibe ich kurz vor Mittag, dass er mich bei meinen Eltern treffen soll. Eine Stunde später rollt der schwarze Mercedes auf den Hof und er springt gut gelaunt und fröhlich aus dem Auto.

      Ich sehe das, weil ich schon eine gefühlte Ewigkeit am Fenster stehe. Langsam gehe ich die Treppe hinunter zur Tür, an der er schon sturmklingelt. Als ich die Tür öffne, steht er grinsend davor.

      „Hi, Tim“, raune ich.

      „Carolin!“ Er zieht mich in seine Arme und mir schießen augenblicklich die Tränen in die Augen …

      Wenig später sitzen wir auf der Terrasse in der Sonne und Tim hört mir einfach nur zu.

      Ich erzähle ihm von den Fußballspielen, die ich nicht mag, von meinen Osnabrücker Ausflügen, die Marcel nicht mag, von meinen Osnabrücker Freunden, die Tim ja auch schon kennengelernt hat und die Marcel auch nicht mag und von den SMSen von dieser Sabrina. Alles erzähle ich ihm. Außer das von Erik und mir. Ich stelle Erik nur als Ellens Bruder hin, der es nicht gut findet, dass Marcel den Umgang mit ihnen nicht gerne duldet.

      Tim lässt sich daraufhin noch mal die Geschichte von meinem Drogensamstag erzählen und wie ich an Diego und den Verlobungsring kam. Ich erzähle ihm auch, wie Marcel mit mir und Diego zu meinen Eltern gefahren ist und dafür plädiert hat, dass ich zu ihm ziehen darf.

      Die Erinnerung zerreißt mich fast. Ich weiß oft nicht, ob ich es ohne Marcel überhaupt schaffen kann.

      Tim sagt nicht viel. Er kam hier so glücklich an und hat erneut ein Wrack vor sich sitzen, das um Marcel und die zerstörte Liebe zu ihm trauert. Er weiß nicht, dass ich vor allen damit nicht fertig werde, dass ich es bin, die Marcel betrogen hat. Wenn er ahnt, dass irgendwas aus der Richtung mit meinem momentanen Gefühlsinferno zu tun hat, dann glaubt er höchstens, ich bin wieder dem Fluch, und somit ihm verfallen.

      Davon fühle ich nicht viel. Was da in meinem Bauch rumort ist eher die Python, die sich an meiner Trauer, Wut und meinem Gefühlschaos dick frisst. Ich habe mir alles selbst zerstört. Marcel war sich gestern Abend sogar sicher gewesen, dass ich mich mit jemand anderem treffe. Das hatte er mir ganz klar zu verstehen gegeben. Dass ich ihn mit dieser Sabrina ausstechen konnte, ahnte er da ja noch nicht.

      „Und was hast du jetzt vor?“, fragt Tim und nimmt meine Hand. Er küsst meine Fingerspitzen. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“

      Ich weiß, was er für mich tun kann.

      „Können wir später meine Sachen aus Marcels Wohnung holen?“

      „Natürlich! Und wo willst du hin? Ziehst du wieder hier ein?“

      Ich sehe mich um, als sähe ich das hier zum ersten Mal. „Muss ich wohl.“

      Tim lässt meine Hand los und steht auf. „Ich hole meine Zigaretten eben aus dem Auto“, raunt er und geht.

      Ich sehe ihm überrascht hinterher. Mich in dem Stuhl zurücklehnend, bin ich erstaunt, wie ruhig er ist und wie geduldig er sich alles angehört hat. Er hatte sich bestimmt etwas anderes für seine freien Tage gewünscht.

      Als er wieder um