Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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Rauch und sagt: „Ich habe vielleicht eine Lösung, für den Fall, dass du nicht bei deinen Eltern unterkriechen möchtest.“

      Mein Blick läuft fragend in sein Gesicht.

      Tim hält mir seine geschlossene Hand hin. „Ich denke, dass ist Vorsehung, dass ich heute hierhergekommen bin“, raunt er.

      Ich halte ihm meine geöffnete Hand hin, unsicher was er meint und er legt mir etwas hinein.

      Ich starre auf den Schlüssel in meiner Hand.

      „Mein Wohnungsschlüssel. Ich rufe nachher den Vermieter an und sage Bescheid, dass meine Schwester da einzieht, bis ich im Dezember wiederkomme. Ihm wird es recht sein und die Miete wird eh bezahlt, ob ich nun da bin oder nicht.“

      Ich kann es nicht fassen. Ich kann in Tims Wohnung ziehen, die weder Marcel noch sonst jemand kennt.

      Plötzlich sehe ich Licht am Horizont. Das wird meine Panikwohnung.

      Aus dem Stuhl springend, falle ich Tim um den Hals, der seine Zigarette fallen lässt und mich mit beiden Armen umschlingt. Er zieht mich auf seinen Schoß und bevor ich auch nur reagieren kann, legen sich seine Lippen auf meine und er küsst mich ungestüm.

      Völlig überwältigt von meinem neuen Wohnsitz erwidere ich seinen Kuss. Ich bin jetzt ein freier Mensch und kann tun und lassen, was ich will.

      Meine Gefühle ignoriere ich, und mein Gewissen, das kurz den Zeigfinger hebt, um auf sich aufmerksam zu machen.

      Freiheit! So fühlt sie sich an. Mit einer eigenen Wohnung. Und ich kann küssen, wen ich will.

      Aber der Kuss hinterlässt nur einen bitteren Nachgeschmack und ich knurre in mich hinein: Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Ich bin frei und will frei bleiben und wenn ich mich dazu zwingen muss.

      „Danke Tim. Wenn ich dich nicht hätte“, flüstere ich und sehe in seine schwarzen Augen. Ich schiebe mich von seinem Schoß. „Lass uns meine Sachen holen.“

      Wir schaffen meine Schultasche und alles, was ich mitnehmen möchte, aus meinem Zimmer in sein Auto. Meinen Fernseher lasse ich da, weil Tim alles noch in seiner Wohnung hat, wie er mir erklärt.

      Tim dreht die Musik auf und lässt das Verdeck aufklappen, als wir nach Bramsche fahren.

      Ich bin so überwältigt von dem Gefühl, eine eigene Bleibe zu haben und mein Leben plötzlich wieder in eine ertragbare Richtung laufen zu sehen, dass ich fast schon gute Laune bekomme. Niemals hätte ich gedacht, dass mich der Umstand, dass ich mit Tims Wohnung mir ein Stück Freiheit erkaufe, so aufbaut. Vielleicht hat mich Marcel mit seiner Heimchen-Nummer doch überfordert?

      Gut, wäre die Wohnung in Osnabrück, wäre ich noch glücklicher. Aber hier draußen kann mich keiner finden, wenn ich es nicht will. Und ich will es definitiv nicht.

      Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Das soll mein neuer Lebensstil sein.

      Marcel ist, wie ich erwartete, nicht da. Er muss arbeiten und geht wohl davon aus, dass ich in der Schule bin. Oder interessiert ihn das vielleicht auch gar nicht mehr, weil er seine Sabrina hat? Vielleicht geht es ihm wie mir und er ist eigentlich froh, wieder frei zu sein.

      Diego springt uns entgegen und ich werde doch wieder traurig. Ich nehme den Kater auf den Arm und drücke ihn an mich. „Unser Scheidungskind“, murmele ich, gebe ihm einen Kuss in sein haariges Gesicht und setze ihn auf den Boden zurück.

      Er läuft sofort in die Küche und ich folge ihm, um ihm Futter zu geben. Es ist das letzte Mal und ich möchte ihm noch etwas Gutes tun, egal ob er schon zu fressen hatte oder nicht.

      „Das war Marcels Absicht“, murrt Tim.

      „Was?“, frage ich und sehe ihn im Türrahmen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.

      „Das mit dem Kater. Er dachte, du gehst dann auf keinen Fall.“

      „Er hat sich geirrt“, raune ich nur und versuche nicht daran zu denken, was ich hier eigentlich gerade tue.

      Ich gehe alle Räume ab und suche meine Sachen zusammen. Das meiste stopfe ich einfach in einen großen Müllsack.

      „Mein Fernseh- und Internetanschluss läuft noch. Ich hatte ihn vergessen abzumelden. Jetzt brauchen wir ihn wieder. Wozu Vergesslichkeit alles gut sein kann.“ Tim grinst mich aufmunternd an.

      „Ich bezahle dir das alles. Nächste Woche suche ich mir einen Job. Ich habe ein Cafe gesehen, das Aushilfen sucht“, sage ich und spreche aus, was mir schon länger im Kopf herumschwirrt.

      Tim nimmt mir den Sack mit der Wäsche ab und stellt ihn auf den Boden. Vor mich tretend, raunt er, eine Hand in meinen Nacken schiebend. „Ich nehme kein Geld von dir. Mir reicht, wenn du mich beherbergst, wenn ich mal in der Nähe bin.“ Seine dunklen Augen leuchten erwartungsvoll auf und ich weiß, was er damit sagen will.

      „Das ist deine Wohnung und du kannst da schlafen, wann immer du willst“, raune ich und mir ist klar, was das eigentlich für mich heißt. Aber er nimmt halt kein Geld von mir.

      Meine Zuhälter. Einer sieht wie einer aus - mit seiner Karre, und der andere lässt mich auf die Art bezahlen. Heute und hier macht mir das nichts. Das ist mir meine Freiheit wert - und meine Unabhängigkeit, die ich haben werde, sobald Tim wieder weg ist. Und da ich keine Gefühle mehr dulde, ist es okay, wenn alles nur noch Geschäft ist. Ich fühle mich irgendwie erwachsen, eiskalt und berechnend. Genau das, was ich in nächster Zeit nur noch fühlen will.

      „Komm, lass uns weitermachen. Ich will hier schnell weg“, sage ich, weil mir Erik einfällt, und dass er hier jederzeit auflaufen könnte, genauso wie Marcel, wenn er sich erneut krankmeldet.

      Tim nickt und lässt mich los. Er will auch nur noch weg … und mich in seiner Wohnung unterbringen. Mir entgeht sein zufriedener Gesichtsausdruck nicht.

      Als wir alles in seinem Auto verstaut haben, überkommt mich erneut die Traurigkeit. Ich nehme einen Zettel von meinem Schreibtisch und schreibe: „Marcel, es ist besser, wir trennen uns erst mal eine Zeit lang, bis jeder weiß, was er wirklich will. Such mich nicht. Mach dir keine Sorgen um mich. Und sag meinen Eltern nichts. Die flippen aus, wenn sie erfahren, dass ich wieder wegen einem Mädel gehen musste.“

      Ich wähle den letzten Satz mit bedacht, weil meine Eltern von meiner neuen Freiheit nichts wissen dürfen. Schließlich bin ich noch nicht volljährig. Auch wenn es nun für Marcel so aussehen muss, als wäre das mit dem Mädel der einzige Grund für mich zu gehen. Ich weiß, es gibt auch noch andere.

      Diego sehe ich nicht und beschließe, ihn auch nicht zu suchen. Das würde mir nur unnötig das Herz schwermachen.

      Ich lasse die Tür ins Schloss fallen und werfe mit Schwung den Haustürschlüssel durch die Katzenklappe in den Flur. Weder gestern noch heute Mittag hätte ich gedacht, dass ich so konsequent mit meinem alten Leben abschließe.

      Als wir im Auto sitzen und Tim den Mercedes auf die Straße lenkt, sagt er: „Es gibt eine Bedingung, was die Wohnung angeht.“

      Ich sehe ihn an, verunsichert darauf wartend, was nun folgen wird. „Ja?“, frage ich nach, als er seinen Satz nicht sofort beendet.

      „Keine Männerbesuche“, sagt er und sieht mich herausfordernd an.

      Ich grinse. „Außer dir, nehme ich an.“

      „Außer mir natürlich“, meint er und sein Gesichtsausdruck wirkt ernst und entschlossen.

      Ich schlucke. „Kein Problem. Ich habe nicht vor, mich in nächster Zeit in irgendein Abenteuer zu stürzen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll“, murmele ich.

      Tim sieht mich nur an. Als er nickt, weiß ich nicht, ob er sich miteingeschlossen fühlt.

      Keine zehn Minuten später fährt er den Mercedes in seine Garage und wir steigen aus. Ich klemme mir unter den Arm, was ich tragen kann und Tim nimmt den Rest.

      Als wir die Haustür aufschließen, müssen wir noch eine Treppe bewältigen. Die