Ruth Anne Byrne

Ungebremst


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Schule …

      ›Blöder Rollstuhl!‹, denkt Nina und greift doch zur Müslischüssel.

      Vor der Schule öffnet Nina die Autotür. Draußen strömen die Schüler aus allen Richtungen herbei. Sie schlendern, hopsen, laufen aufeinander zu und begrüßen sich. Nina sinkt tiefer in den Autositz. Sie wartet. Und zwar darauf, dass Papa den Rollstuhl aus dem Kofferraum holt.

      Ein Schrammen lässt Nina aufblicken. Fabian gleitet auf seinem Skateboard die niedrige Mauer neben der Rampe zum Schultor hinunter und springt vom Sockel. Für einen Augenblick segelt er durch die Luft. Kaum zu glauben, aber er landet sogar wieder auf dem Board.

      Erst letztens hat Mama Ninas alte Inlineskates weitergegeben. Kurz bevor die Leute kamen, um sie abzuholen, hätte Nina sie am liebsten unter dem Bett versteckt. Aber … wozu sie noch behalten? Was muss Fabian sie auch ständig daran erinnern?!

      Zwei Mädchen stecken auf dem Weg zum Schultor hinauf die Köpfe zusammen. Bevor sie hineinverschwinden, drehen sie sich noch einmal um und schmachten Fabian an.

      Nina rollt die Augen. Gibts doch nicht! Was finden die alle an dem Typen?

      Max hält ihm die Faust für einen Fistbump hin. Sein »Yeah!« ist so laut, dass Nina es bis zum Parkplatz hört. Dann klopft er Fabian auch noch auf die Schulter.

      ›Ja, ja, ihr seid super – es wissen alle!‹

      Papa stellt den Rollstuhl auf den Gehweg neben der Beifahrertür. Am liebsten würde Nina sitzen bleiben und postwendend zurück nach Hause fahren. Sie lässt den Kopf hinten gegen die Nackenstütze fallen.

      Spontangrippe, kritischer Kreislaufkollaps, akute Atemnot? Nina rollt die Augen nach oben. Beigegrau-cremefarben. Winzige Fädchen. Sie schlingen sich umeinander. Für einen Moment ist Nina gefesselt in dem Geflecht, aus dem das Fleece des Autodachs gewoben ist.

      Sie schüttelt sich. Das wochenlange An-die-Decke-

      Starren im Krankenhaus war genug für das ganze Leben. Und hinter den beiden Typen – wenn Nina erst einmal durch das Schultor durch ist – dort wartet Fiona!

      Na gut. Nina klopft sich auf die Oberschenkel. Es bleibt ihr ja sowieso nichts anderes übrig … Sie hebt die Beine aus dem Auto und rutscht auf den Rollstuhl hinüber. Die Jungs bleiben stehen, als hätten sie das nicht schon oft genug gesehen. Nina verkrampft. Nur nicht die Blicke erwidern …

      Nachdem Papa ihr den Rucksack auf den Schoß gelegt hat, atmet sie tief durch und rollt auf die Rampe zu. Hinter sich hört sie das Auto davonfahren.

      »Darf ich vorbei, bitte!«

      Fabian baut sich vor ihr auf. Nina muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können – soweit das möglich ist, denn seine Stirnfransen hängen fast bis zur Nasenspitze.

      »Na, Sprung, heute keinen Bodyguard dabei?« Er grinst hämisch und fährt gleich fort: »Aber wir sind ja nicht so … Damit du nicht einsam bist, lassen wir dich einfach mitmachen!« Er deutet auf die Mauer. »Hast ja auch Räder. Dann würde dein Nachname endlich wieder zu dir passen!«

      Nina schluckt. Gerade noch bringt sie ein »Haha, sehr witzig. Geh auf die Seite!« heraus.

      Die Rampe hinaufzukommen, ist Herausforderung genug.

      Fabian rührt sich keinen Zentimeter. Stattdessen grinst er von oben herab und tätschelt Ninas Kopf. »Na, vielleicht, wenn du ein bisschen gewachsen bist. Dann kannst du bei den Großen mitmachen.«

      Nina schüttelt ihn ab, rollt rückwärts, um ihn loszuwerden. Max stellt sich hinter seinen Freund und lacht genauso blöd. Sein Kopf ragt über Fabians weit hinaus.

      Nina räuspert sich, trotzdem ist ihre Stimme belegt. »Sagt genau der Richtige!«

      Max legt seinen Arm um Fabians Schultern. »Immer noch wesentlich größer als du. Wie ist das eigentlich so, Sprung, wenn man auf Augenhöhe nur Hinterteile sieht?«

      Mit wütendem Blick fixiert sie ihn, bemüht, die Tränen dahinter zu verstecken. Aufstehen und ihm eine kleben … Das wärs jetzt!

      Endlich gehen die beiden einen Schritt zur Seite. Max deutet auf die Rampe. »Aber mach schnell, ich will den Trick noch einmal probieren, bevor es läutet!«

      Ein Schauer läuft ihren Nacken hinunter. Die sehen jetzt genau zu … Sehen, wie mühsam das ist, die Steigung hochzukommen.

      Max springt leichtfüßig neben ihr die Stufen hinauf. Oben angekommen, grinst er sie noch einmal blöd an. Dann nimmt er Anlauf und gleitet auf seinem Board die Kante der Mauer hinunter.

      In der Klasse fährt Nina zu dem einzigen Platz, an dem kein Stuhl steht. Neben ihr holt Fiona Hefte aus der Schultasche. »Hallo!« Sie lächelt Nina an.

      Es läutet.

      Fiona sieht sich in der Klasse um. »Ich fasse es nicht, Fabian und Max kommen schon wieder zu spät.«

      Nina verzieht das Gesicht. Überall geht es nur um Fabian, den »großen« Fabian und seine Clique.

      Fiona kritzelt ein Herz mit einem F an den Rand ihrer Heftseite. Sie behauptet immer, dass damit Fiona gemeint ist.

      Nina ist sich da nicht so sicher. Das Fabian-Fieber scheint eine ernsthaft ansteckende Krankheit zu sein. Aber Fiona ist nicht die Sportlichste und ihr wirklich liebes Zahnspangenlächeln hat Fabian noch nicht bemerkt. Wird er vermutlich auch nie. Eventuell liegt das an dem Vorhang vor seinen Augen. Freie Sicht hat er nur, wenn der Wind beim Skateboarden die Haare zur Seite weht. Wenn dabei auch noch seine viel zu großen Tribal-Shirts flattern, sieht er aus wie eine Vogelscheuche, findet Nina. Kurzum, Fiona und Fabian sind zwei Memory-Karten, die nicht zusammenpassen. Gut so! Denn Fiona hat etwas Besseres verdient als diesen Kotzbrocken.

      Nun stolpern die Jungs in die Klasse.

      Über den Rand ihrer Brille sieht Frau Winkler sie tadelnd an. »Was mache ich nur mit euch beiden? Morgen um Punkt : Uhr bringt ihr mir eine Fleißaufgabe. Nämlich die fertig ausgearbeiteten Seiten  bis  aus dem Mathematikbuch. Vielleicht merkt ihr euch dann endlich, dass der Unterricht mit dem Läuten beginnt!«

      Fiona stupst Nina von der Seite an und schiebt ihr einen Zettel zu.

      Nina faltet das Papier auf und liest: Wenn ich es nicht gleich erzähle, platze ich! Heute Nachmittag holen wir eine Katze aus dem Tierheim!!! Wann kommst du sie anschauen? Morgen?

      Wie lieb! Morgen habe ich Therapie. Übermorgen vielleicht?, schreibt Nina und schiebt den Zettel wieder zurück.

      »Schulhof?«, fragt Fiona beim Zurückgeben der Tabletts in der Mensa.

      Nina nickt. Gemeint ist damit leider nur der schmale Weg neben der großen Wiese. Langsam rollt sie die Rampe hinunter, bremst den Lauf der Räder mit den Händen und stellt sich neben eine Bank. »Weißt du schon, welche Katze es wird?«

      Fiona setzt sich neben sie. »Ein Kater mit schwarzen Ohren und weißem Gesicht, und am Kinn hat er auch noch einen schwarzen Punkt … So süß!«

      Während sie mit leuchtenden Augen erzählt, spielt Nina mit den Rädern. Sie kippt die vorderen in die Luft und balanciert auf den hinteren.

      »Dass du dabei nicht umfällst, wundert mich jedes Mal wieder«, murmelt Fiona.

      Nina schmunzelt. »Mama kann da auch nicht zuschauen. Sie sagt dann ständig ›Du warst schon immer eine Zappeline‹ und droht, die Kippstützen hinten wieder anzustecken.«

      Fiona lacht.

      »Dabei sagt mein Therapeut, dass ich das gut können muss.« Nina beobachtet Fabian und die anderen »Großen« – oder die, die sich zumindest für groß und wichtig halten – wie sie sich auf der Wiese gegenseitig mit einem Ball abschießen. Fabian zieht seine Jacke aus, weil es in der Sonne so warm ist, und bekommt von Max den Ball zugespielt. Er zielt auf Kathi und wirft.

      ›Das könnte ich auch‹, denkt Nina und beißt die Zähne zusammen.