Ruth Anne Byrne

Ungebremst


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verschwindet Fabian schon hinter der Hecke des Nachbarhauses, doch dann bremst er. Mit einem Tritt kippt er das Skateboard nach oben und klemmt es sich unter den Arm. Er sieht zu Ninas Haus herüber –

      ganz ungeniert – und fährt sich durch die Haare. Sie bleiben heute in einem Bogen über der Stirn stehen.

      Er wird doch nicht … Nina verschluckt sich. Hustend sieht sie, wie er das Gartentor öffnet.

      »Na, na.« Daniel klopft ihr auf den Rücken. »Keine Panik auf der Titanic!«

      Nina räuspert sich und wischt sich über die Augen. Sekunden später läutet es.

      »Ich gehe aufmachen«, sagt Daniel grinsend. In seinen Augen blitzt schon wieder das Großer-Bruder-

      beschützt-kleine-Schwester-Ding auf.

      Keine Panik?! Der hat gut reden! Gerade noch erwischt sie ihn am Ärmel und sagt: »Nein, warte! Ich mach das.« In Windeseile rollt sie zur Tür.

      »Hallo!« Fabian neigt den Kopf in Richtung Schule. »Kommst du mit?«

      Echt jetzt? Nina sieht ihn mit großen Augen an. Was, wenn er wieder etwas Gemeines macht? Sie wäre ihm hoffnungslos ausgeliefert. Aber er lächelt freundlich … so, als ob sie ihm trauen könnte. Man sieht sogar seine Augen, nachdem er eben den Vorhang zur Seite geschoben hat. Grünbraun. Das ist ihr vorher nie aufgefallen. Und die Versuchung ist einfach zu groß, endlich einmal nicht auf alle anderen angewiesen zu sein.

      Noch bevor Nina nicken kann, hört sie Mama aus dem Esszimmer: »Ob das wirklich so eine tolle Idee ist? Kann er das überhaupt?«

      »Susanne!«, grummelt Papa. »Was soll schon passieren? Ist doch gut für sie!«

      Ninas Wangen prickeln. Sie haben bestimmt die gleiche Farbe wie ihr erdbeerrotes T-Shirt.

      Schritte kommen näher. Viele Schritte. Auf einmal steht die ganze Familie hinter ihr.

      Nina duckt sich. Am besten im Boden versinken … Aber keiner beachtet sie. Alle sehen über sie hinweg.

      »Guten Morgen!« Mama legt ihre Hände auf Ninas Schultern.

      »Guten Morgen, Frau Sprung. Herr Sprung.« Fabian sieht zu Boden und bohrt seinen Fuß in den Abstreifer. Ob er gleich umdreht und davonläuft? Wenn der Rollstuhl nicht zwischen vier Leuten im Vorzimmer eingepfercht wäre, würde Nina das jetzt auf jeden Fall tun.

      »Wir freuen uns, dass du unsere Tochter in die Schule begleiten willst!«, sagt Papa.

      Der Druck von Mamas Fingern auf ihren Schultern wird stärker.

      »Oder, Susanne?« An ihrem Hinterkopf spürt Nina Papas Ellenbogen, der in Mamas Seite stupst.

      Mama seufzt. »Na gut, ich hole die Schulsachen.«

      Auf der Straße steckt Fabian das Skateboard zwischen die Träger seines Rucksacks. Nina zieht die Handschuhe an.

      »Ruf mich an, wenn du in der Schule angekommen bist!«, ruft Mama ihr winkend nach und wird von Papa ins Haus gezogen.

      Nina rollt die Augen. Bestimmt wird Mama gleich am Esszimmerfenster stehen. In der alten Wohnung hat sie Nina, bevor diese zur Schule losging, einfach einen Kuss auf die Stirn gedrückt und sie durch die Tür hinausgeschoben. Und jetzt …

      Fabian langt nach den Griffen des Rollstuhls und schiebt an.

      Ninas Nackenhaare stellen sich auf, so als ob sein kalter Atem ihren Rücken hinunterlaufen würde. Sie bremst die Räder ab und Fabian stolpert fast in sie hinein. »Warte!«

      Er beugt sich fragend zu ihr nach vorne.

      »Ähm … pushen kann ich auch selber.«

      Er sieht sie immer noch fragend an.

      »Ich meine fahren, rollen. Kannst du bitte neben mir gehen?«

      »Ähm … okay.« Fabian steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert neben ihr her. »Wie ist dir das eigentlich passiert?«

      »Du weißt das gar nicht? Redet nicht die ganze Nachbarschaft davon?«

      »Kann sein. Bislang war mir das egal. Aber jetzt würde ich es gerne wissen.« Er lächelt sie an, irgendwie schüchtern. Ist das der gleiche Junge, der sich vor ein paar Tagen noch bei jeder Gelegenheit über sie lustig gemacht hat? Beinahe übersieht Nina die erste Bürgersteigkante und bremst gerade noch rechtzeitig.

      Fabian geht einfach hinunter. Dann erst merkt er, dass sie stehengeblieben ist. »Jetzt helfen?«

      Nina schüttelt den Kopf. Sie kippt und lässt sich kontrolliert über die Abschrägung hinunterrollen. »Ein Pferd hat mich abgeworfen.«

      »Au! Und warum …?« Er zeigt auf den Rollstuhl.

      »Meine Wirbelsäule war gebrochen. Etwa hier.« Sie beugt sich kurz vor und deutet auf eine Stelle knapp unterhalb der Mitte ihres Rückens.

      Auf der anderen Straßenseite hebt Nina wieder die vorderen Räder und schiebt kräftig an. Die beiden biegen in die Haydngasse ein. Hier geht es etwas bergab und Nina bremst, um genauso schnell wie Fabian zu sein. »Als ich nach dem Unfall im Krankenhaus aufgewacht bin, waren meine Beine weg. Also … schon noch da, aber trotzdem irgendwie weg. Dann kam wochenlanges Herumliegen und später die Reha.«

      »Reha?«

      »Eine Klinik, in der man lernt, mit dem Rolli umzugehen. Das alles hat fast das ganze letzte Schuljahr gedauert, weit weg von zu Hause. Mama war da, Papa und Dani konnten nur an den Wochenenden kommen. Dann sind wir hierhergezogen, wegen dieser Schule.« Schmallippig sieht sie hinunter auf den Rollstuhl. »Und jetzt … jetzt sitze ich fest in diesem blöden Ding.«

      Fabian bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. »Wie lange dauert das, bis du wieder gehen kannst?«

      Zum hundertsten Mal diese Frage und nach wie vor gibt es keine sinnvolle Antwort darauf. Wenigstens ist Mama nicht dabei. Die würde gleich wieder glasige Augen bekommen.

      Nina schluckt. »Ich werde nicht mehr gehen können, sagen die Ärzte. Also, wenn nicht irgendein Wissenschaftler demnächst draufkommt, wie man kaputte Nerven flickt.«

      »Echt?« Fabian verschränkt die Arme und löst sie wieder. Stattdessen steckt er die Hände hinten in die Hosentaschen, als wüsste er nicht, wohin damit. Dann zieht er die rechte Hand gleich wieder heraus und streicht die Haare aus dem Gesicht. »Es … es tut mir leid! Alles. Wir waren so gemein zu dir.«

      Sie beißt sich auf die Unterlippe, nickt. Die Gasse verengt sich zu einem Fußgängerweg, der auf beiden Seiten durch Wände begrenzt ist. Efeu wächst von den Gärten herunter. Es sieht ein bisschen aus wie eine Schlucht, eine Großstadtschlucht. Einer dieser Orte, wo man gerne vorbeikommt, kurz verweilt, um durchzuatmen. Aber für Nina ist es ihr ganz persönlicher Abgrund. Also, eigentlich sind es zwei Stufen, ein langer, gerader Treppenabsatz und noch einmal zwei Stufen. Trotzdem ist die Treppe in der Haydngasse für Nina unüberwindbar.

      Sie sieht zu Fabian auf, beißt die Zähne kurz aufeinander. Ständig alle um alles Mögliche bitten zu müssen, ist das Allerschlimmste. Aber was bleibt anderes übrig?

      »Jetzt brauche ich dich!«

      »Okay.« Er stellt sich hinter sie. »Wie mache ich das?«

      »Leicht kippen und vorsichtig hinunterrollen. Ich helfe mit.« Sie langt nach den Greifreifen.

      »Pfff … ganz schön schwer!«

      »Muss ich mit dir mehr Armdrücken trainieren?«

      »Haha, sehr witzig. Warum nimmst du nicht einfach eine andere Straße?«

      »Oben herum ist das Gefälle des Hügels zu steil und unten ist die Schnellstraße.«

      »Ein Haus auf der anderen Seite der Schule wäre wohl praktischer gewesen …«

      Nina seufzt. »Es war nicht einfach, etwas zu finden, so kurz vor Schulbeginn.« Und im Erdgeschoss, ohne Stufen, mit großem Badezimmer …

      Auch