Ruth Anne Byrne

Ungebremst


Скачать книгу

Zeig!«

      »Na ja, ganz so einfach ist das auch wieder nicht.« Nina beißt sich auf die Unterlippe. Dann rollt sie vorwärts und öffnet die Tür. »Nur damit kann ich stehen.« Sie deutet auf die Beinschienen und Krücken, die neben ihrem Bett auf dem Boden liegen.

      Fabian folgt ihr ins Zimmer. »Kannst du damit auch gehen?«

      Sie sagt nichts. Es wäre zu hoch gegriffen, diese Frage mit Ja zu beantworten. Außerdem sind es keine echten Schritte. Es geht nur, wenn sie beide Beine gleichzeitig nachzieht.

      »Warum kommst du dann nicht so in die Schule?«

      »Echt jetzt? Das ist unglaublich anstrengend. Dafür muss ich so viel trainieren. Ich hätte viel lieber Inlineskates, einen Roller oder von mir aus ein Skateboard als diese blöden Räder!« Sie klopft außen auf den Rollstuhl. »Ich komme nicht einmal allein zur Schule. Und

      das nur wegen der dummen Treppe in der Haydn­gasse. Mit den Schienen komme ich noch viel weniger weit. Außerdem … Glaubst du wirklich, ich will mir anhören, was du vor allen in der Klasse dazu zu sagen hättest?!«

      Fabian sinkt ihr gegenüber auf die Bettkante. Er presst die Lippen aufeinander.

      »Was? Hast du gar keine blöde Meldung auf Lager?«, herrscht sie ihn an.

      Er schüttelt den Kopf. Sieht er tatsächlich ein bisschen betroffen aus?

      Eine Zeit lang sitzen beide still. Dann holt Nina das Mathebuch aus dem Rucksack. »Hier. Du kannst es mir in der Schule zurückgeben.«

      Fahrtwind

      Am nächsten Morgen findet Nina das Mathebuch auf ihrem Tisch in der Klasse. Fabian steht mit Max vorne bei Frau Winkler. Auf dem Weg zu seiner Bank in der letzten Reihe kommt er an Ninas Tisch vorbei. Sie sieht zu ihm auf, aber er würdigt sie keines Blickes.

      Undankbarer Idiot!

      Frau Winkler steht auf. »Bitte öffnet eure Bücher auf Seite .«

      Nina blättert dorthin. Ein kleiner Zettel fällt heraus. Von den sich bewegenden Seiten davongeweht, segelt er zu Boden.

      »Mist!« Mit einer Hand hält sie sich am Tisch fest, um nicht aus dem Rollstuhl zu kippen, und tastet mit den Fingerspitzen nach dem Zettel.

      »Brauchst du Hilfe, Nina?«, hört sie Frau Winklers Stimme.

      Ihre Wangen werden heiß. Mit rotem Kopf setzt sie sich wieder auf. »Eigentlich nicht«, sagt sie. Für sich denkt sie: ›Was ich brauche, ist ein ruhiger Moment – ohne 24 Zuschauer.‹

      Doch bevor sie es sich versieht, legt Kathi den Zettel vor ihr auf den Tisch.

      »Danke!« Nina seufzt.

      »Was ist das?«, flüstert Fiona und lehnt sich zu ihr.

      Nina nimmt den Zettel. Auf dieser Seite ist er leer. Sie dreht ihn um. Danke! steht in kleiner, krakeliger Schrift darauf und daneben ist ein Smiley gezeichnet.

      Fiona sieht ihr immer noch über die Schulter. »Von wem?«

      ›Fabian‹, denkt Nina. ›Von wem sonst?‹ Dann murmelt sie: »Keine Ahnung!«, und unterdrückt ein Lächeln.

      »Habt ihr jetzt den Kater?«, fragt Nina Fiona in der Mittagspause.

      Sie nickt eifrig. »So süß!«

      »Lässt er sich schon streicheln?«

      »Na ja, nachdem wir ihn aus dem Käfig gelassen haben, ist er schnell unter meinem Bett verschwunden. Aber heute Früh habe ich einen Gummiball über den Boden gerollt und dann ist er gleich herausgeschossen.«

      Wie gestern stehen die anderen auf der Wiese. Kathi wirft den Ball so, dass Fabian ihn unmöglich fangen kann. In hohem Bogen fliegt er über seinen Kopf hinweg auf Nina zu. Sie stemmt sich mit einer Hand von der Sitzfläche hoch und holt den Ball mit der anderen aus der Luft.

      Fabian kommt herüber und streckt die Hände aus, um den Ball von Nina zu fangen. Sie rollt vor bis zum Anfang der Wiese und wirft ihn ihm zu.

      Spöttisch zwinkert er. »Ist da gerade jemand ein bisschen gewachsen?«

      Nina legt den Kopf schief und sieht ihm nach, wie er zu den anderen zurückläuft. Das war nicht so ätzend wie üblich, oder? Ausnahmsweise.

      Nach der letzten Stunde trödelt Nina immer absichtlich. Natürlich könnte sie schneller zusammenpacken. Aber es ist wesentlich angenehmer, wenn nicht die ganze Schule beim Ins-Auto-Einsteigen zusieht. Außerdem sind sowieso alle der Meinung, dass im Rollstuhl alles dreimal so lange dauert.

      Geduldig wartet Herr Jung, bis sie fertig ist. Dann schließt er das Klassenzimmer hinter ihr zu. Nina rollt durch den leeren Gang zum Fahrstuhl. Wie viel Platz hier auf einmal ist! Sie sieht sich um, ob Herr Jung schon im Lehrerzimmer verschwunden ist. Dann treibt sie die Räder so schnell an, dass ihre Haare im Fahrtwind fliegen.

      Kurz vor dem Aufzug bremst sie und fährt ins Erdgeschoss hinunter. Als sich die Schiebetür öffnet, sieht sie, dass Fabian und Max wieder mit ihren Skateboards die Rampe blockieren. Echt jetzt? Haben die kein zu Hause?!

      Leider ist es zu spät, umzukehren … Fabian hat sie schon gesehen. Nina nimmt all ihren Mut zusammen und rollt hinaus. Sie wirft einen schnellen Seitenblick zum Parkplatz hinunter. Mist! Mamas Auto ist auch noch nicht da!

      Max dreht sich zu ihr. »Da ist sie ja, die kleine Schnecke!« Er macht ihr den Weg zur Rampe frei. Mit einer Verbeugung weist er sie ein. »Soll ich dich anschubsen, damit es mal schneller geht?«

      Nina hält die Luft an, krallt die Finger um die Greifreifen – nur für alle Fälle.

      Fabian kommt die Treppe herauf. Er legt die Hand auf Max’ Schulter. »Gehts noch? Lass sie doch einfach vorbei!«

      Max dreht sich um. »Was ist denn mit dir los?«

      ›Meine Chance. Schnell weg hier!‹, denkt Nina. Sie rollt hinter Max vorbei und die Rampe hinunter –

      ohne die Räder mit den Händen zu bremsen. Sie beißt die Zähne zusammen, während der Rollstuhl immer schneller wird. Mist … Die Kante! Dort, wo die Rampe auf die Ebene übergeht … Die hat sie total vergessen. Die Welt zieht in Streifen an ihr vorbei. Es holpert. Sie zuckt zusammen.

      »Woooaaa!«, ruft Fabian hinter ihr.

      Der Rollstuhl braust weiter und sie mit ihm, geradewegs auf ein Blumenbeet zu. Im letzten Moment reißt sie das rechte Rad herum und fährt eine Kurve – auf einem Rad, das andere hat den Boden verlassen. Sie hält die Luft an, verlagert instinktiv das Gewicht nach links. Das Rad ächzt, als es den Boden wieder berührt. Ihr Herz schlägt bis zum Hals, aber die Bahn ist frei. Sie lässt die Räder auf dem Platz vor der Schule ausrollen. Gerade noch gut gegangen.

      In diesem Moment biegt Mamas Auto um die Kurve. Mit zitternden Händen lenkt Nina zum Straßenrand. Sie spürt die Blicke der Jungs im Nacken. Bloß nicht zurückschauen. Ein paar tiefe Atemzüge später geht es wieder halbwegs. Dann schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen.

      Das Auto rollt vor ihr in die Parklücke. Nina öffnet die Beifahrertür. Auf ihrem Sitz steht eine riesige Papiertasche. Mama springt aus dem Auto, kommt herüber und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.

      »Du warst einkaufen?«, fragt Nina und wartet, bis Mama den Sitz frei gemacht hat.

      Diese lächelt und hält ihr die Tasche hin.

      Nina wirft einen Blick hinein. »Leinwände … und Akrylfarben. Cool!«

      Mama strahlt. »Ich dachte, das haben wir schon länger nicht mehr gemeinsam gemacht. Steig ein, wir müssen jetzt zur Therapie!«

      Großstadtschlucht

      Milch tropft vom Müslilöffel, den Nina gerade in den Mund stecken wollte. Schnell wischt sie sich über das Kinn. Draußen vor dem Fenster fährt Fabian vorbei.