Ruth Anne Byrne

Ungebremst


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und gepolsterte Schieber an einem speziellen Schreibtisch. Endlich hört sie den Schlüssel im Schloss.

      »Wie war dein Tag, Schwesterherz?«

      »Pfff …« Sie rollt die Augen. »Spielen wir?«

      Daniel nimmt den Basketball aus dem Regal und wartet, bis Nina wieder im Rollstuhl sitzt. Dann öffnet er ihr die Tür zum Garten. Dort gibt es eine große, ebene Fläche und einen Korb an der Wand. Er dribbelt den Ball. Sobald Nina ihre Handschuhe anhat, fährt sie ihm wendig nach. Er spielt ihr den Ball zu, sie dreht um und wirft. Treffer!

      Daniel fängt ihn wieder auf, läuft nach hinten und wirft selbst. Inzwischen ist Nina nach vorne gerollt und holt sich den Ball. Nun dribbelt sie, während sie eine Runde über den Platz fährt. Ihr Bruder stellt sich ihr in den Weg.

      Plötzlich schaut Mama mit dem Handy am Ohr durch die Terrassentür. »Du bekommst gleich Besuch!«, flötet sie Nina zu. Kurz hält sie den Finger auf das Mikro­fon und flüstert: »Sei nett zu ihm, er hat es gerade nicht leicht!«

      Fragend sieht Nina zu Mama hin, doch die ist schon wieder im Haus verschwunden.

      In diesem unachtsamen Moment nimmt Daniel Nina den Ball aus der Hand und wirft einen Korb. Tatsächlich läutet es wenige Minuten später. Kurz darauf kommt Fabian in den Garten.

      Drohend baut Daniel sich vor ihm auf. »Bist du hier, um dich zu entschuldigen?«

      Fabian zuckt zusammen, hält seinen Rucksack vor dem Körper fest. Trotzdem sieht er Nina erstaunt an. »Du … spielst Basketball?«

      Sie prellt den Ball auf den Boden und fängt ihn wieder auf. Was macht der hier? Sprachlos starrt sie ihn an, so als ob die Zeit stillstünde. Durch ihre Gedanken flitzt die Erinnerung an unzählige Sticheleien, die bislang wenigstens nur in der Schule stattgefunden haben, und jetzt … jetzt steht er hier, in ihrem Garten!

      »Was ist? Was willst du von Nina?« Daniel ballt eine Faust und klatscht sie in die andere Hand. »Soll ich?«, fragt er Nina.

      »Was? Nein, bitte nicht, nicht noch einmal! Ich bin nicht freiwillig hier, aber … ich brauche deine Hilfe!«, ruft Fabian an Nina gewandt.

      Ihre Hilfe?! Nina und Daniel tauschen verwunderte Blicke aus.

      Mamas Worte hallen durch Ninas Kopf. ›Sei nett zu ihm!‹ – Warum sollte sie?

      Er ist hergekommen, weil er etwas will – von ihr! Nur was könnte so einer wollen?

      Sie gibt sich einen Ruck. »Lass nur, ich komme schon klar«, sagt sie zu Daniel.

      »Echt, jetzt?!« Ihr großer Bruder wirft Fabian einen Ich-krieg-dich-schon-noch-Blick zu.

      Nina scheucht ihn ins Haus.

      »Ruf mich, wenn er fies wird!« Widerwillig zieht Daniel die Tür hinter sich zu. Bestimmt wartet er direkt dahinter.

      Nina dreht sich zu ihrem Gast. Sie rollt vor und zurück, betrachtet ihn, wie er mit seinem Rucksack in den Händen verloren herumsteht – einsam und verlassen, ohne Max und seine Freunde. Dann strafft sie den Oberkörper und räuspert sich. »Was willst du von mir?«

      Fabian tritt von einem Bein auf das andere. »Ich habe mein Mathebuch in der Schule vergessen.«

      »Warum gehst du es nicht einfach holen?«

      »Die Klassenzimmertür ist abgeschlossen und den Hausmeister habe ich nicht gefunden.«

      »Max und die anderen können dir sicher besser weiterhelfen.«

      »Könnten sie. Aber meine Mutter hat deine Mutter angerufen und jetzt stehe ich hier.« Er rollt die Augen. »Also bringen wir es hinter uns und ich bin gleich wieder weg.«

      Nina schnaubt. Was denkt sich Mama bloß dabei? Nur weil Frau Ullmann eine Arbeitskollegin von ihr ist? Laut sagt sie: »Mein Mathebuch ist so klein geschrieben, dass du es bestimmt nicht lesen kannst.«

      »Dann halt nicht. Soll ich meiner Mutter erzählen, was du für eine Zicke bist?« Fabian dreht sich um und will gehen.

      »Soll ich meiner Mutter erzählen, was du für ein …« Sie wirft ihm einen bitterbösen Blick zu. »Du hast echt Glück, dass ich bislang nichts gesagt habe, sonst hättest du schon längst beim Direktor gesessen!«

      Fabians Augen sind hinter den Stirnfransen nicht zu sehen, aber da ist etwas in der Art, wie er die Schultern hängen lässt.

      Nina kneift die Lippen zusammen. Einfach geben wird sie ihm das Buch sicher nicht, aber … Sie räuspert sich. »Na gut, wenn du das Mathebuch haben willst, musst du es dir verdienen!« Sie prellt den Ball auf den Boden. »Wenn du mehr Körbe triffst als ich, leihe ich es dir. Und ich mache es extra einfach für dich, wir spielen aus dem Stand. Jeder hat zehn Versuche.« Sie wirft ihm den Ball zu.

      Fabian sieht sie ungläubig an, doch dann stellt er sich neben sie. Sein erster Wurf geht durch das

      Netz.

      »Anfängerglück«, sagt Nina. Nun ist sie an der Reihe. Die gleiche Gänsehaut wie auf der Rampe heute Früh zieht wieder ihren Nacken entlang – wie jedes Mal, wenn Fabian sie anstarrt. Wird er das morgen in der Schule allen erzählen? Der Ball geht daneben. Aber Fabians nächster Wurf auch. Jetzt konzentriert Nina sich. Soll er doch schauen! In hohem Bogen fliegt der Ball auf den Korb zu. »Treffer, yeah!«

      Die meisten der nächsten Würfe auch. Fabian wirft zum letzten Mal. Schon wieder daneben.

      »Sechs zu drei für mich. Schaut schlecht aus für deine Fleißaufgabe.« Nina lehnt sich zurück.

      Fabian bohrt seine Schuhspitze in den Boden. »Ich wusste nicht, dass das geht, wenn man … Ich meine, mit dem Ball und so …«, stammelt er.

      Irritiert schüttelt Nina den Kopf. Da gehen noch ganz andere Sachen! Kurz beißt sie sich auf die Unterlippe, dann sagt sie: »Weißt du was, ich gebe dir noch eine Chance, wenn du mich im Armdrücken besiegst.« Sie rollt zum Tisch, zieht die Bremsen an und bedeutet ihm, sich auf die andere Tischseite zu setzen.

      Wie angewurzelt bleibt Fabian stehen. »Ernsthaft?« Dann macht er einen Schritt auf sie zu. »Was solls. Das ist sicher schnell erledigt!«

      Nina stellt den Ellenbogen auf den Tisch. »Das glaube ich auch!«

      Die beiden haken ein. »Drei, zwei, eins, los!«

      Sie schiebt leicht an. Fabian stemmt sofort mit voller Kraft dagegen. Er drückt ihren Arm fast gegen die Tischplatte.

      Kaum zu glauben! Hat sie ihn unterschätzt? Die mickrige Vogelscheuche? Nun gibt sie ihm richtig Konter. Zu irgendetwas sollten die Klimmzüge und Übungen am Stufenbarren in der Therapie doch gut sein.

      Kleine Schweißtröpfchen bilden sich auf seiner Stirn.

      Nina hält den Druck aufrecht. Dann presst sie ruckartig noch etwas fester und schmettert Fabians Hand auf den Tisch.

      Er sieht sie mit großen Augen an. »Du machst mich fertig. Warum bist du so stark?«, schnauft er.

      Sie zuckt mit den Schultern. Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Das ist ein Geheimnis der kleinen Leute. Komm, das Buch ist in meinem Zimmer.«

      »Aber …«

      »Ist doch klar, dass ich dir helfe.« Sie zwinkert ihm zu und rollt ins Haus.

      Vor ihrer Tür zögert sie jedoch. Fabian in ihrem Zimmer. Ob das eine gute Idee ist? Dort gibt es jede Menge Stoff für viele weitere ätzende Bemerkungen. Daniel hat schon recht, dass allein ihr Schreibtisch aussieht wie ein mittelalterliches Foltergerät. Und die anderen Dinge erst …

      Fabian betrachtet den Türrahmen. Jedes Jahr zu Ninas

      Geburtstag macht Mama einen Strich, wie groß sie schon geworden ist. Die 13. Markierung ist gerade einmal eine Woche her. Die vorhergehenden hat Mama fein säuberlich von der alten Wohnung hierher übertragen.

      Mit seiner Hand, die er auf den Kopf gelegt hat, fährt Fabian in gerader Linie zum Türrahmen hinüber.