Elko Laubeck

Polizeidienst en français


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hatte, aber dafür sei er ja hier. „Die Arbeit geht vor. Ich bin nicht ins Hérault gekommen, um Urlaub zu machen und den französischen Kollegen untätig bei der Arbeit zuzuschauen.“ Er wolle mit anpacken.

      „Gut“, sagte Renée. „Moulin, du fährst jetzt an den Strand. Du hast es deiner Familie versprochen. Feierabend für heute! Ich fahre noch nach Montpellier, um an die Ergebnisse der Autopsie zu kommen. Das dauert mir hier zu lange. Und wo bist du untergebracht?“, wandte sie sich an Pocher. „Über die weiteren dienstlichen Einzelheiten sprechen wir in den nächsten Tagen, Dienstvorschriften, Waffenrecht und so weiter.“

      „Ich habe vorerst ein Zimmer im Hotel gegenüber vom Bahnhof“, sagte Pocher. „Ich schaue mir noch einmal die Schleuse an, die liegt quasi auf dem Weg zum Hotel. Ich habe da einen Verdacht, dass die Wasserleiche womöglich daher kam.“

      „Gut möglich“, sagte Renée noch, als sie ihre Handtasche schulterte und den Raum verließ. „Morgen sind wir ein Stück weiter.“

      Pierre nahm einen kleinen Rucksack, warf ihn über eine Schulter und bedeutete Gerd, das Gebäude mit ihm zu verlassen. „Feierabend. Was Renée gesagt hat, stimmt. Ich muss heute noch mit den Kindern an den Strand. Das ist nicht weit von hier.“

      „Aber zieht euch warm an, wenn ihr ins Wasser geht“, scherzte Gerd.

      „Soll ich dich noch ins Hotel bringen?“, bot sich Pierre an.

      „Nein, danke, ich gehe lieber zu Fuß. Ich habe ja noch nicht viel von Agde gesehen.“

      Diese Art von Fürsorgepflicht hatte ihn tief beeindruckt. Dass Renée Lebrun Pierre daran erinnert hatte, dass es private Verpflichtungen gab, die wichtiger waren als dienstliche Dinge, hatte er nicht erwartet. In Köln hatte es so etwas während seiner langen Dienstzeit nicht gegeben. Familiäre Verpflichtungen oder private Krisen waren von den Kollegen und Vorgesetzten nicht wahrgenommen worden. Der Dienst hatte niemals Rücksichten gekannt. Natürlich hatte er frei bekommen, als er geheiratet hatte, auch an den Tagen, an denen seine Kinder geboren wurden, aber er hatte sich nie darauf verlassen können, dass er pünktlich Feierabend bekommen würde, wenn er sich etwa mit seinen Kindern zu einem Nachmittag im Schwimmbad verabredet hätte oder wenn er eine Mittagspause einlegen wollte, um sie von der Schule abzuholen.

      Pierre hatte Renée am Vortag darum gebeten, heute etwas früher Feierabend zu machen, um noch mit seinen Kindern an den Strand gehen zu können. Über die turbulenten Ereignisse des Tages hatte er es beinahe vergessen, wenn nicht Renée ihn daran erinnert hätte.

      12.

      Hinter der Hérault-Brücke folgte Gerd einem unbefestigten Fußweg entlang des Stichkanals zur Rundschleuse. Der Kanal im Schatten der Bäume war ruhig, eine Strömung war nicht auszumachen. Eine Entenfamilie zog ihre Bahn. Ansonsten fiel Pocher nichts Verdächtiges auf.

      Er ging am Schleusenhaus vorbei bis auf die Brücke über den Canal du Midi und beobachtete Michelle Reynouard, die in ihrer eigentümlichen Gelassenheit zwei Schiffe vom Canal du Midi her hereinfahren ließ, ganz langsam verteilten sich die beiden Hausboote an den runden Schleusenwänden und machten fest. Die Schleusenwärterin hatte die Arme unter der Brust verschränkt und beobachtete das nautische Geschehen. Dann lief sie zum kanalseitigen Schleusentor und beugte sich weit darüber, um unter der Brücke hindurch nachzuschauen, ob sich vielleicht noch ein weiteres Boot der Schleuse näherte. Dabei spreizte sie ihr Spielbein weit nach hinten in die Luft.

      Wie gebannt betrachtete Pocher ihren Rücken aus der Vogelperspektive, denn er stand auf der Brücke nur wenige Meter entfernt über ihr. Wieder war es ihm, als ob ihm diese Figur irgendwie vertraut vorkam, ihre Konturen, ihre Art, sich zu bewegen, als hätte er sie schon einmal gesehen. Dann schritt sie mit leicht hüpfendem Schritt zurück zu einem Schaltkasten und drückte einen Knopf. Die beiden Torflügel setzten sich langsam in Bewegung und schlossen sich. Michelle Reynouard umrundete die Schleusenkammer und beobachtete die beiden Boote, ob sie sicher festgemacht hatten. Unmerklich stieg der Wasserspiegel um etwa dreißig Zentimeter. Flink war sie die Treppe angestiegen, die zu dem höher gelegenen Tor Richtung Hérault führte.

      Die beiden Torflügel öffneten sich nun langsam. Mit verschränkten Armen und leicht gespreizten Beinen stand sie da und ließ die Boote langsam unter sich vorbeiziehen in Richtung Hérault. Die Freizeitkapitäne winkten ihr im Vorbeifahren zu.

      Pocher betrat nun wieder das Schleusengelände, wünschte der Schleusenwärterin einen guten Tag und wollte von ihr wissen, wie die Schleuse funktioniert.

      „Oh, Monsieur. Das ist das Einfachste auf der Welt. Also, in diese Richtung verläuft der Canal du Midi Richtung Toulouse, na ja, erst einmal Richtung Béziers. Der liegt ungefähr einen Meter über dem Meeresspiegel.“ Sie deutete mit dem Arm in Richtung der viel befahrenen Straßenbrücke. „Also, die Boote kommen aus dem Kanal in die Schleuse. Dann wird das Tor geschlossen, mit Elektroantrieb. Dann werden die Schütze des oberen Tores geöffnet, die sind unter der Wasseroberfläche. Das Wasser des Hérault füllt die Schleusenkammer auf, bis sie auf gleichem Niveau ist. Normalerweise ist der obere Hérault 1,50 Meter über dem Meeresspiegel, aber in trockenen Sommern ist es manchmal auch etwas weniger.“

      Sie lächelte. Pocher nickte, natürlich wusste er im Prinzip, wie eine Schleuse funktioniert.

      „Das besondere dieser Schleuse ist das dritte Tor.“ Sie drehte sich zu dem Tor Richtung Stichkanal zum unteren Hérault. „Im Bedarfsfall können Boote auch heruntergeschleust werden, praktisch auf Meeresniveau. Durch den Stichkanal gelangen sie in den unteren Hérault und damit zum Mittelmeer. Und alles natürlich auch in umgekehrter Richtung.“

      Die Rundschleuse von Agde sei die einzige ihrer Art in ganz Frankreich, sagte sie. „In den 1970er-Jahren wurde sie vergrößert, um auch längeren Schiffen die Möglichkeit der 90-Grad-Drehung in der Schleusenkammer zu ermöglichen. Aber im täglichen Geschäft spielt dies nur eine untergeordnete Rolle. Die allermeisten Boote bleiben auf dem Canal du Midi.“

      „Wann war denn das letzte Mal das Schleusentor in Betrieb?“

      Am Sonntag sei das gewesen, sagte sie. „Am Mittwoch und am Sonntag gibt es zwei Ausflugsboote, die vom unteren in den oberen Hérault fahren und wieder zurück. Sonst kommt es nur alle paar Wochen vor, dass ein Privatboot rauf oder runter möchte. Das muss dann auch vorher angemeldet werden, und die vielen Charterboote, die die Mehrzahl der Schleusenpassagen ausmachen, dürfen nicht runter in den Hérault Richtung Mündung.“

      Plötzlich tauchte ein Boot auf, das sich langsam vom oberen Hérault herkommend in die Schleusenkammer schob. Es machte an der gegenüberliegenden Seite fest.

      „Entschuldigen Sie“, sagte die Schleusenwärterin und ging leichtfüßig die Treppe hinauf und spähte auf den oberen Hérault, ob sich noch weitere Boote der Schleuse näherten. Offensichtlich kamen aber keine Boote nach. Sie ließ das obere Schleusentor schließen und hüpfte die Treppe hinab. Während die Leute an Bord des Bootes offenbar Mühe hatten, das Hausboot an der Schleusenwand seemannsgerecht festzumachen, schritt Michelle Reynouard scheinbar vergnüglich zum Schleusentor Richtung Canal du Midi. Pocher folgte ihr.

      „Ich lasse jetzt per Knopfdruck das Wasser ab in den Kanal“, sagte sie. „Das dauert natürlich einige Minuten.“ Ihr brauner, leicht gewellter Pferdeschwanz flatterte etwas im Wind, eine Locke tanzte auf ihrer Stirn. „Alles hier geht sehr, sehr langsam.“ Sie nahm kurz ihre Sonnenbrille ab. Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet, als sie Pocher wieder ins Gesicht blickte und mit den Schultern zuckte, als ob sie sagen wollte: das sei eben so, schneller gehe es nicht.

      Sie versteckte ihre Augen wieder hinter den dunklen Gläsern der Brille. Für einen Moment hatte sie schweigend ihren Mund leicht zugespitzt geöffnet. Es war, als ob ihr ein leiser Seufzer entfuhr, und Pocher bemerkte, dass ihre Unterlippe erregt bebte.

      Als das Wasser in der Schleusenkammer auf Kanalniveau war, verfiel sie wieder in ihre Arbeitsroutine, drückte einen Knopf an dem Schaltkasten, die Tore öffneten sich langsam, sie gab der Bootsbesatzung Handzeichen, dass sie weiterfahren könnten. Die Bootsleute machten die Leinen los und mussten einige Male vorwärts und rückwärts