Hubertus von Wick

Der verbotene Park


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      Überrascht waren die Jungen, dass im rechten Teil des Hauses noch Gardinen hingen, auch wenn sie bestimmt schon Jahre lang nicht mehr gewaschen worden waren. Der linke Teil des Hauses sah unbewohnt aus.

      „Da wohnt noch jemand“, stellte Philipp leise fest.

      „Lass uns hinten herum gehen“, raunte Tobias. „Ich habe keine Lust, mich heute noch einmal anspucken zu lassen.“

      In großem Bogen umgingen sie das Haus, kletterten über einen Graben und gelangten bald an eine mindestens zwei Meter hohe Mauer aus Feldsteinen, die dicht mit Efeu überwuchert war.

      „Wahnsinn“, staunte Philipp, „das muss ein riesiges Grundstück sein. Hast du gesehen, wie lang diese Mauer ist?“

      „Hundert Meter, schätze ich, und hinter Bäumen völlig versteckt. Von draußen nicht zu sehen.“

      „Ob das alles zu dem kleinen Häuschen da vorne gehört?“, überlegte Philipp.

      „Wäre möglich. Mich würde brennend interessieren, wie es hinter dieser Mauer aussieht“, meinte Tobias und schaute sich suchend nach einer Möglichkeit um, die Mauer zu überwinden.

      „Wenn das Grundstück zum Haus gehört, ist es mit Sicherheit kein gepflegter Garten“, vermutete Philipp. „Lass uns ein Stück an der Mauer entlanggehen, vielleicht finden wir eine Stelle, an der wir hinaufklettern können.“

      So marschierten sie im Gänsemarsch die Mauer entlang und schauten nach einer Lücke, durch die sie hindurchgelangen konnten. Die Mauer erwies sich aber im Gegensatz zu dem Haus als außerordentlich gut erhalten, und sie fanden kein einziges Loch. Vielleicht lag es daran, dass die Mauer in ihrer gesamten Länge von Schwarzerlen und Birken eingefasst war und ihr auf diese Weise über all die Jahre Schutz geboten hatten. Nach fast hundert Metern endlich knickte die Mauer rechtwinklig ab. Und auf der Stirnseite des Grundstückes hatten sie Glück. Eine Birke war bei einem der letzten Stürme entwurzelt worden und von außen gegen die Mauer gefallen. Sie stand da wie eine Leiter an die Mauer gelehnt und forderte die Jungen geradezu auf, an ihrem Stamm emporzuklettern.

      Tobias machte den Anfang. Auf allen vieren zog er sich vorsichtig nach oben und bemühte sich, vom Stamm nicht abzurutschen. Er hatte Glück, dass am oberen Teil des immer schmaler werdenden Stammes rechts und links genügend kleine Äste abgingen, die er als Haltegriffe nutzen konnte.

      „Ich bin oben“, meldete er an Philipp weiter, als er vom Stamm auf die Mauer gesprungen war.

      Philipp hatte auch schon die Hälfte des Aufstiegs hinter sich gebracht.

      „Wie viel Platz ist da oben?“, fragte er hinauf.

      „Fünfzig Zentimeter, schätze ich“, gab Tobias zurück und streckte seine Hand aus, um seinen Freund das letzte Stückchen auf die Mauerkrone herüberzuziehen.

      „Mann, staunte Philipp. „Ein verwilderter Park.“

      „Park?“, stutzte Tobias und schaute Philipp überrascht an. „Glaubst du, das ist der verbotene Park, von dem die alte Hexe gefaselt hat?“

      „Wäre auf jeden Fall spannend“, grinste Philipp. „Wir sollten mal ausprobieren, ob da unten tatsächlich der Tod lauert.“

      „Und wenn er uns geschnappt hat, erscheinen wir der Alten als Gespenster, spucken ihr ins Gesicht und wimmern: „Alte, du hattest ja so recht!“

      Tobias sagte das in einer solchen Grabesstimme, dass Philipp vor lauter Lachen fast von der Mauer fiel.

      „So, und wie kommen wir da jetzt herunter?“, fragte Tobias, als sich Philipp beruhigt hatte.

      „Ganz einfach: springen!“ Und er machte einen gewaltigen Satz von der Mauer in das Innere des Parks.

      „Bist du verrückt?“, rief Tobias erschrocken herunter. „Da kommst du nie wieder heraus! Oder siehst du irgendwo eine Leiter?“

      „Oh, Mist, daran habe ich gar nicht gedacht“, erwiderte Philipp und schaute sich nach einem Hilfsmittel um, mit dem er auf die Mauer zurückgelangen konnte. Dann schüttelte er den Kopf.

      „Keine Leiter in Sicht. Aber wenn du auch herunterkommst, können wir eine Räuberleiter machen. Ich ziehe dich dann von oben auf die Mauerkrone.“

      „Witzbold! Dann kann ich dich auch gleich selbst auf die Mauer ziehen!“, sagte Tobias und tippte sich an die Stirn.

      „Aber dann können wir den Park vorher nicht mehr erkunden“, grinste Philipp.

      „Also gut, probieren wir’s“, stimmte Tobias zu und sprang hinunter. „Wenn das mit deiner Räuberleiter nachher nicht klappt, sind wir hier gefangen“, gab er zu bedenken, als er sich aufgerappelt hatte.

      „Dann werden wir gemeinsam elendiglich sterben“, meinte Philipp theatralisch, griff sich an sein Herz und ließ sich rücklings in das hohe Unkraut fallen.

      Ganz so witzig fand Tobias diese Theatereinlage nicht. Er grinste zwar, aber die Vorstellung, in einer Stunde, wenn es dämmrig zu werden begann, hier immer noch festzusitzen, ließ ihm ein wenig mulmig werden.

      „Okay, dann komm“, sagte er, und bemühte sich, selbstbewusst zu wirken. „Aber leise und vorsichtig.“

      Sie schoben sich durch hohes Gras und Unkraut zwischen dicht stehenden Erlen, Birken und Weiden hindurch Meter um Meter vor. Hin und wieder versperrten ihnen Kiefern und Zypressen oder auch behauene Natursteine und polierte schwarze Platten den Weg.

      „Ziemliche Wildnis hier“, stellte Philipp fest und schaute sich vorsichtig um.

      „Die haben hier alte Grabsteine abgekippt“, wunderte sich Tobias. „Die meisten, die hier in der Gegend herumliegen, sind zerbrochen.“

      Vor ihnen ragte dichtes Gestrüpp auf, durch das sie sich vorsichtig hindurcharbeiteten.

      „Da vorn steht ein Pavillon“, meldete Tobias, der vorgegangen war. „Sieht aus wie ein Tempel.“

      Sie schlichen von hinten an den Pavillon heran, der etwa sechs mal sechs Meter groß war und ein kleines, flaches Satteldach trug. Auf seiner Rückseite zeigte er keinerlei Fensteröffnungen, war also zum Anschleichen gut geeignet. Sie lugten vorsichtig um die Ecke. Ein kleines, vergittertes Fensterchen zeigte nach Osten und den Eingangsbereich zierten zwei Säulen.

      „Das ist weder ein Pavillon noch ein Tempel, das ist eine Gruft“, flüsterte Philipp erschaudernd.

      „Dann ist das ganze hier kein Park, sondern ein alter Friedhof“, stellte Tobias fest.

      „Deshalb auch überall die umgekippten Grabsteine!“

      „Die Alte hatte recht. Hier lauert der Tod.“ Philipp erschauderte noch einmal.

      „Spinn nicht rum“, sagte Tobias rau, um sich selbst etwas zu beruhigen. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. „Hier lauert überhaupt nichts außer Unkraut und Mücken.“

      Er schlug sich kräftig auf den Unterarm, um einen der kleinen Blutsauger zu erwischen, der ihn schon geraume Zeit umschwirrt hatte.

      „Aussichtsturm?“, fragte Philipp und zeigte nach oben.

      „Du willst im Ernst aufs Dach der Gruft klettern?“ Tobias schaute ungläubig nach oben.

      „Klar, von oben haben wir bestimmt einen Überblick über das ganze Gelände. Es sind doch höchstens zwei Meter. Wir nehmen das Fenstergitter als Leiter.“

      „Da müssen wir auch erst einmal drankommen“, gab Tobias zu bedenken.

      „Räuberleiter“, schlug Philipp vor. „Ich ziehe dich dann nach.“ Tobias stellte sich mit dem Rücken an die Wand, das Fenstergitter über sich. Er verschränkte die Finger seiner Hände zu einem Steigbügel und ließ Philipp aufsteigen. Der zog sich erst an Tobias Hals, dann am Gitter hoch und trat schließlich mit dem anderen Fuß ins Fenstergitter.