wie sein Leben seit seiner Geburt verlaufen war –, war Leo am nächsten Tag im Krankenhaus und ging mit einem Krankenpfleger durch die Gänge. Er sah müde und kränklich aus.
Grant starrte ihm hinterher, bis der Pfleger Leo durch eine Doppeltür in den Dialyseraum führte. Ein Drang, ihm zu folgen, stieg in ihm auf, aber er schob ihn beiseite. Leo Garner brauchte ihn nicht. Er hatte genug Freunde und Familie in Blountville. Außerdem war er wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, neue Freundschaften mit dem Pflegepersonal und den anderen Dialysepatienten zu schließen. Immerhin dauerte es drei bis vier lange Stunden an drei Tagen in der Woche, um sein Blut von Giftstoffen zu reinigen. Ein kranker Körper nahm viel Zeit in Anspruch. Und Leo war wahrscheinlich gerade dabei, »das Beste daraus zu machen«. Das sähe ihm ähnlich.
Grant schüttelte den Kopf.
Als sich die Türen hinter Leo und dem Pfleger schlossen, verschwand das seltsame Gefühl der Atemlosigkeit. Grant beschloss, dass es durchaus vernünftig war, es auf die Blähungen von dem Chili zu schieben, das er zum Mittagessen in der Cafeteria gegessen hatte. Es war wirklich köstlich gewesen, aber die Bohnen machten aus jedem ein wandelndes Gasleck. Stirnrunzelnd gab er Alec die Schuld dafür, dass er das Gefühl auch nur einen Moment lang für etwas anderes gehalten hatte.
Er wandte sich wieder seiner Patientenkartei zu und versuchte herauszufinden, was die Worte darin bedeuteten, aber stattdessen dachte er an diesen einen Typen von der medizinischen Fakultät, einen Dr. Wallace, ein absoluter Nierenspezialist. Er fragte sich, ob der Idiot Dr. Muresan, der die Nierenabteilung im Appalachian Medical leitete, bereit wäre, sich in Leos Fall mit Wallace zu beraten.
Grant hatte gerade eine Kehrtwende gemacht und war im Begriff, selbst mit Muresan zu sprechen oder noch einmal einen Blick auf Leos Krankenakte zu werfen, als Carrie Jones, die nach Grants Meinung beste Krankenschwester der Gegend, ihn fast umrannte. Sie hielt die Hand eines kleinen Mädchens mit zerzausten, langen braunen Haaren und haselnussbraunen Augen.
»Tut mir leid, Dr. Anderson«, sagte Carrie und schob eine verirrte Haarsträhne zurück in ihren Pferdeschwanz.
»Pass bloß auf, wo du hingehst«, sagte Grant gereizt und ließ seinen Frust an der falschen Person aus, wie er es viel zu oft tat.
»Nein, du passt auf«, sagte das Kind und hob trotzig das Kinn.
Grant starrte auf sie herab.
Carrie sagte: »Na, na, na. Das war nicht sehr höflich. Ich wette, das würde deinem Vater gar nicht gefallen.«
Das Mädchen schniefte hochmütig. »Ich meine ja nur, er hat uns angerempelt, also sollte er aufpassen.«
Grant sah sie stirnrunzelnd an.
Sie starrte Grant an.
»Du solltest dich nicht wie eine Göre aufführen«, sagte Grant. »Damit kommst du im Leben nicht weit.«
»Ich denke, du musst es ja wissen«, antwortete sie. Es war surreal, einen so gut getimten und bissigen Kommentar aus ihrem kleinen, süßen Gesicht zu hören. Normalerweise mochte Grant Kinder, aber dieses hier kam ihm seltsam altklug vor, auf eine Art und Weise, die ihm zu nahe ging und seine eigenen schmerzhaften Kindheitserinnerungen zurückbrachte.
»Lucky, sei nicht so unhöflich, Süße!«, schimpfte Carrie.
»Er war zuerst unhöflich.«
Der Name des Mädchens war Lucky? Welches Arschloch tat das einem unschuldigen Kind an? Grant hatte Mitleid mit ihr, aber sie starrte ihn nur an, ohne jegliches Bedauern.
»Du hast recht«, sagte Grant. »Ich war zuerst unhöflich. Und ich entschuldige mich dafür.«
Carrie sah schockiert aus.
Lucky hob ihr Kinn und sagte großmütig: »Entschuldigung angenommen.«
»Jetzt komm schon. Wir bringen dich runter in die Pädiatrie. Tut mir leid, Dr. Anderson«, sagte Carrie, während sie das kleine Mädchen den Flur hinunterzog.
Grant sah ihnen nach und fragte sich, wegen welcher Krankheit das Kind im Krankenhaus war. Für ihn sah sie gesund aus. Er fühlte sich schuldig, weil er sie eine Göre genannt hatte, besonders wenn sie krank war. Die Kinder in der Pädiatrie waren kleine Helden und hatten ein Recht darauf, ihre launischen, schlechten Tage zu haben. Er würde sie später aufsuchen, um sich noch einmal zu entschuldigen und ihr vielleicht einen Teddybären aus dem Geschenkeladen mitzubringen.
Er bog in den Gang mit dem besten Verkaufsautomaten ein. Dort gab es diese Marshmallow-Nuggets, die er so gern mochte. Sie würden ihn beruhigen, so wie Meditation für die Möchtegern-Hippies, von denen er zu viele im Fitnessstudio sah. Und dank Leo Garner, der ständig auftauchte, brauchte sein Verstand in letzter Zeit immer öfter Hilfe, um zur Ruhe zu kommen.
***
Grant war der Meinung, dass jede erfolgreiche Operation, die länger als acht Stunden dauerte, eine Belohnung verdiente – und zwar nicht nur weitere Marshmallow-Dinger aus dem Automaten, sondern ein anständiges Essen in einem schicken Restaurant und ein oder zwei gute Getränke.
Im Little Apron war es an diesem Dienstagabend ruhig, und Grant saß allein an einem Tisch in der Ecke, starrte ins Leere und ließ die entscheidenden Momente der Operation noch einmal Revue passieren: den Nervenkitzel, als er die genauen Positionen der Wucherungen hinter der Speiseröhre und der rechten Lunge des Patienten entdeckt hatte, die Art und Weise, wie sich die Schichten unter seinem Skalpell wie warme Butter zurückzogen, und die Momente des Triumphs, als er die Verwachsungen nach so vielen Stunden und all der Mühe sauber entfernt hatte. Es war ein guter Tag gewesen.
Grant wurde aus seiner Erinnerung gerissen, als sich jemand neben ihn an seinen Tisch setzte. »Äh, nein, ich will keine Gesellschaft«, stieß er verärgert hervor. Dann warf er einen Blick hinüber und biss die Zähne zusammen, um nicht vor Frust zu schreien.
Leo lächelte. »Ich auch nicht.«
Grant starrte ihn an. »Warum sitzt du dann hier?«
»Um zu vermeiden…«
In diesem Moment kam Leos Großmutter, Marie Garner, in den Raum, sah sich um und ging direkt auf Leo zu. Ihr Haare waren hochgesteckt und ihre gebräunten Wangen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Sie trug ihre Sheriff-Uniform, aber ihre Waffe steckte nicht in dem Holster an ihrer Seite. Vielleicht war sie nicht im Dienst. Die Tatsache, dass Blountville einen weiblichen Sheriff hatte, hatte Grant überrascht. Er hatte den Ort für so bibeltreu gehalten, dass er Frauen in der Küche und nicht an einem Tatort haben wollte – nicht, dass es in Blountville viele Verbrechen gäbe, aber anscheinend hatte die Stadt manchmal eine progressive Schattenseite.
»Hör zu, tu mir einen Gefallen und mach mit«, flüsterte Leo eindringlich.
Grant schnaubte. »Warum sollte ich…«
»Bitte«, flehte Leo. Seine grauen Augen wurden so groß und so hübsch, dass sich Hitze in Grants Unterleib ausbreitete.
Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon war Marie bei ihnen. »Zuckerschnute, ich dachte mir, dass du das bist. Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, als ich dich reinkommen sah. Isst du mit Dr. Anderson zu Abend?«
»Nein«, sagte Grant.
»Ja«, antwortete Leo.
»Ich verstehe«, sagte Marie und kniff die Augen zusammen. »Dr. Anderson ist ziemlich berüchtigt hier in der Stadt.«
»Weswegen?«, fragte Grant.
»Memaw«, warnte Leo.
»Für lockere Sitten und Unhöflichkeit. Ich weiß, dass du schon einmal mit meinem Enkel ausgegangen bist, aber ich würde dir dringend raten, das noch einmal zu überdenken.«
»Keine Angst, das habe ich nicht vor.«
Leo verdrehte die Augen, stand auf und gab seiner Großmutter einen Kuss auf die Wange, woraufhin sie ihn liebevoll umarmte. »Memaw, wie geht es dir?«
Grant erinnerte sich daran, dass er es, als er