Monika Luginbühl

Eigenständig im Alltag unterwegs (E-Book)


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des Alltags liegt das Potenzial zu mehr Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Gleichzeitig muss hier die Balance zwischen einer normgeleiteten Realität und der Individualität jeder Person gefunden werden. Ein Beispiel: Wenn ein chronisch psychisch kranker Klient seine Kleider nicht im Schrank, sondern auf dem Boden aufbewahren will, weil er sich – warum auch immer das in seiner Lebenswelt so ist – dadurch sicherer fühlt, entspricht das zwar normgeleitet nicht der Regel, aber aus lebensweltlicher Sicht kann das Verhalten trotzdem in Ordnung sein. Selbst dann, wenn diese Ordnung die «Normalität» der Sozialpädagogik irritiert. Voraussetzung ist in diesem Beispiel allerdings, dass ein Minimum an Hygiene gewährleistet wird, damit es nicht zu einer Gesundheitsgefährdung kommt. Lebensmittel im Kleiderhaufen oder feuchte Kleidung, die schimmelt, wären hier eine Grenze des Tolerierbaren. Der Grat zwischen der eigenen Perspektive des gelingenden Alltags und der Akzeptanz der Realität der Klient*innen ist immer wieder eine Herausforderung und bedarf der ständigen Reflexion. So ist beispielsweise Fairtrade und Konsumerziehung im Setting einer Jugendwohngruppe grundsätzlich ein sinnvoller Inhalt sozialpädagogischer Schulung, der zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Wenn es sich allerdings um eine Wohngruppe mit geflüchteten Minderjährigen handelt, sollte zuerst thematisiert werden, wie diese mit all den vorhandenen, aber für sie aktuell unerreichbaren Konsumverlockungen umgehen können.

      Hauswirtschaft als pädagogisch-agogische Ressource mit dem Ziel einer gelingenden, möglichst selbstbestimmten Alltagsgestaltung sowie einer maximalen gesellschaftlichen Teilhabe und Teilnahme führt also dann zum Erfolg, wenn gleichzeitig eine lebensweltorientierte Sichtweise anstelle eines normierten Weltbildes eingenommen wird. Weiter muss die Balance zwischen «Normalität» und «Individualität» stets reflektiert werden. Dieses Ausloten und die damit verbundene Förderung der Klient*innen im Alltag ist für alle Zielgruppen sinnvoll, wenn auch die angestrebten Kompetenzen unterschiedlich weit gehen. Während eine Jugendliche zum Beispiel lernt, wie sie ihren Jugendlohn verwalten muss, damit das Geld bis Ende Monat reicht, lernt der Klient mit einer kognitiven Beeinträchtigung die Bedeutung der Geldmünzen in Relation zu einzelnen Gütern kennen. Beide haben im Alltag Lernschritte gemacht. Den Menschen Entwicklungsfähigkeit zuzuschreiben und Lernmöglichkeiten zu eröffnen, gehört zu einem humanistischen Berufsverständnis und zeigt sich gerade eben im gelebten Alltag besonders deutlich. Selbstverständlich ist der Ansatz der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch komplexer und beinhaltet auch eine politische Dimension, da sich die Soziale Arbeit für möglichst gute Lebenslagen der Klient*innen einsetzen soll.

      Lebenspraktische Themen pädagogisch gestalten

      Wir haben dargelegt, wieso Hauswirtschaft ein sehr reichhaltiges Lernfeld ist, das Sie aktiv nutzen können und sollen. In diesem Kapitel nähern wir uns ein erstes Mal der ganz konkreten pädagogischen, lebenspraktischen Gestaltung dieses Lernfelds.

      Stellen Sie sich folgende Situation aus dem Praxisalltag vor: Ein Kind auf Ihrer Wohngruppe hat Geburtstag und wünscht sich eine Torte mit frischen Himbeeren. Es ist allerdings Januar. Was tun Sie?

      1 Ich kaufe frische Importhimbeeren, schliesslich will ich dem Kind eine Geburtstagsfreude machen.

      2 Ich bespreche mit dem Kind die Saisontabelle für Früchte und schaue, ob wir die Torte mit anderen Früchten machen können, zum Beispiel mit Äpfeln.

      3 Ich bespreche mit dem Kind die Einkaufsoptionen und ihre ökologischen Vor- und Nachteile, und wir wählen schliesslich als Alternative zu den frischen die tiefgekühlten Himbeeren.

      Alle drei Reaktionen sind zwar menschlich nachvollziehbar, aus pädagogischer Sicht und mit Blick auf die Erweiterung der Alltagskompetenzen bieten sich allerdings nur bei Reaktion b) und c) echte Lernchancen: In der Diskussion mit der Betreuungsperson lernt das Kind die Saisonalitäten kennen, es setzt sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen auseinander, lernt mögliche Alternativen zum Einkauf von CO2-intensiver Importwaren kennen, erfährt, dass man Rezepte variieren kann, und erhält am Schluss zum Geburtstag einen Kuchen, der ihm dennoch schmeckt – und vielleicht ja noch einen Gutschein für einen Kuchen mit frischen Himbeeren, der während der Himbeersaison eingelöst werden kann. Mit anderen Worten: Auch wenn die Reaktion a) nett gemeint ist, wird das Kind in diesem Beispiel um wichtige Lernerfahrungen gebracht.

      Stellen Sie sich eine zweite Situation vor: Wiederum steht ein Geburtstag an, dieses Mal in einer Institution für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen. Eine Klientin kommt mit der Bitte auf Sie zu, für einen Mitbewohner den Geburtstagskuchen selbst backen zu dürfen. Sie nehmen die Planung in die Hand – was tun Sie?

      1 Sie finden die Idee zwar gut, aber die Zeit ist knapp und Sie denken nicht, dass die Klientin wirklich einen schmackhaften Kuchen backen kann. Sie lassen sie daher wählen, was es für ein Kuchen sein soll, kaufen ihn aber in der Bäckerei ein.

      2 Sie wählen ein Rezept aus, kaufen die Zutaten ein, wiegen die Zutaten ab und lassen die Klientin den Teig umrühren. Damit der Kuchen nicht zu schief rauskommt, füllen Sie den Teig aber selbst in die Backform und überwachen den Backprozess.

      3 Sie besprechen mit der Klientin, was für einen Kuchen sie backen könnte, wählen ein dem Lernniveau angepasstes Kochbuch aus, lassen sie einen Einkaufszettel erstellen und einkaufen gehen, und assistieren ihr während des Backprozesses. Die Vorbereitung für den Kuchen nimmt viel Zeit in Anspruch und das Ergebnis ist leider leicht angebrannt, aber dennoch essbar.

      Wiederum sind alle drei Reaktionen im Alltag gut nachvollziehbar, haben allerdings sehr unterschiedliche pädagogische Wirkungen: Bei Reaktion a) und b) schmeckt zwar wahrscheinlich der Kuchen sehr gut, aber es geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich der ganze Lernprozess und die Motivation, überhaupt einen Kuchen als Geburtstagsüberraschung zu backen. Auch wenn die Klientin bei Teilentscheiden (Kuchen auswählen) oder Teilschritten (Teig umrühren) involviert war, hatte sie nur eine sehr limitierte Lernchance. Ganz anders bei Reaktion c): Hier wird das Kuchenbacken von Anfang an als Lernsituation genutzt und entsprechend gestaltet. Die Klientin lernt die notwendigen vorbereitenden Teilschritte kennen, erhält Anleitungen oder Hilfsmittel, um das gesetzte Ziel möglichst eigenständig zu erreichen (z.B. ein Bilderkochbuch, falls das Lesen schwerfällt) und hat am Schluss einen Kuchen als Ergebnis – zwar etwas angebrannt, aber dafür selbst gemacht und mit doppelter Freude zum Verschenken.

      Die beiden fiktiven Situation zeigen mehrere wichtige Aspekte auf:

       Im stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Alltag gibt es viele potenzielle Lernchancen – aber nur, wenn diese als solche erkannt und pädagogisch aufbereitet werden.

       Die Schaffung und Gestaltung von Lernprozessen hin zu mehr Selbstständigkeit gehört zu den wichtigsten sozialpädagogisch-agogischen Aufgaben. Nicht nur das Endresultat zählt, sondern insbesondere der Lernprozess – dieser sollte daher auch im Zentrum der Arbeit stehen.

       Damit Lernprozesse stattfinden, müssen sie gut geplant, sinnvoll rhythmisiert, in den Alltag integriert und unterstützend umgesetzt werden.

       Generell gilt: Je grösser der eigenständige Anteil an der Bewältigung einer Aufgabe, desto grösser das Erfolgserlebnis. Insbesondere Teilschritte und Hilfsmittel müssen im Lernprozess gut an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Lernenden angepasst werden.

       Erfolgserlebnisse motivieren für mehr, und Motivation ist gleichzeitig der Schlüssel für die Erweiterung der eigenen Kompetenzen. Gut umgesetzte Lernsituationen im Alltag stärken die Selbstständigkeit und Eigenmotivation der Klient*innen entscheidend.

      Um das Potenzial im Alltag zu nutzen, muss zunächst der pädagogische Wert dieser Alltags-Lernsituationen erkannt und explizit gemacht werden. Denn damit Lernsituationen ihre Wirkung entfalten können, muss ihnen genügend Zeit eingeräumt werden. Wer die Erweiterung der Alltagskompetenzen anhand von pädagogisch aufbereiteten Lernsituationen nicht als Prinzip, sondern als optionalen Zusatz einstuft, wird im Berufsalltag womöglich immer wieder an der Ressourcenfrage scheitern. Es braucht daher eine bewusste Entscheidung eines Teams respektive einer Institution, solche Alltagskompetenzen aktiv und innovativ zu fördern und die Qualität der eigenen sozialpädagogisch-agogischen