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Bianca Kos
Wasserstaub
Roman
OTTO MÜLLER VERLAG
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert durch die Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie des Landes Kärnten und Steiermark.
ISBN 978-3-7013-1295-5
eISBN 978-3-7013-6295-0
© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck-Germany
Cover: Leopold Fellinger
Inhalt
Café Cacao
In den nächsten Tagen wird man einen Regenschirm brauchen, in einigen Regionen, besonders im Norden des Landes, wird sogar ein Sturmschirm notwendig sein. Die Temperaturen werden sinken, dazu sollen heftige Gewitter aufkommen, verbunden mit einer starken Bora. Danach sind wieder heiße Tage angesagt, mit Temperaturen über vierzig Grad. Soweit die Wetterprognosen. Ich blättere weiter, zum Chronikteil, dort laufen seit einigen Wochen auf der Autobahn Wildpferde frei herum. Die Autofahrer protestieren, die Bezirksverwaltung ist gerade dabei, dieses Problem zu lösen. Die Polizei ist auch sehr beschäftigt, neulich wurden nachts hundertzwanzig Kubikmeter Erde von einem Feld gestohlen und am nächsten Tag hundertzwanzig Kilo Erdbeeren aus einem Lagerhaus im Stadtzentrum entwendet. Am Wochenende gab es im Stadtbereich insgesamt dreihunderteinundfünfzig Gesetzesbrüche im Straßenverkehr, davon einhunderteinundvierzig Geschwindigkeitsübertretungen, eine davon von einem Mercedes mit Zagreber Autokennzeichen, welcher auf einem mit siebzig km/h beschränkten Straßenabschnitt um fünfzehn Uhr neunzehn mit hunderteinundneunzig km/h fuhr. Dazu kommen fünfundfünfzig Alkoholsünder, einer davon um Mitternacht mit zwei Komma dreiundzwanzig Promille (einunddreißig Jahre, männlich) in einem Renault Clio mit Rijeker Kennzeichen, und vierzehn am Handy telefonierende Autofahrer (acht davon weiblich, Alter unbekannt), zwölf davon mit nicht zugelassenem Auto.
Diese Informationen entnehme ich der kroatischen Tageszeitung Novi list. Die Printausgabe erscheint täglich im Berliner Format, was bedeutet, dass sie in aufgeschlagenem Zustand über einen halben Quadratmeter groß ist. Das Umblättern der Seiten muss sorgfältig geplant und ausgeführt werden, sonst droht ein papierenes Tohuwabohu. Verglichen mit allen anderen Zeitungen bietet sie das ansprechendste Outfit. Ein prachtvolles Blau leuchtet am Titelblatt, in sorgfältiger Abstimmung mit der Farbe des Meeres, welches von den stolzen Mauern der Stadt Rijeka, in der diese Zeitung erscheint, in seine Grenzen gewiesen wird. Jeden Morgen angle ich mir an einem Kiosk ein frisch gedrucktes und glatt gebügeltes Exemplar, überfliege die Schlagzeilen, spaziere nach Hause und versinke hingebungsvoll in den Tiefen der Spalten.
Ich lese Seite für Seite, jede Rubrik, jeden Artikel, jede Kolumne und jeden Todesfall. Ich lese die Schlagzeilen, die Berichte, die Interviews, die Porträts, die Kriminalstatistik, den Wetterbericht, die Literaturkritiken, die Fußballergebnisse, das Kinoprogramm, die Inserate, die Horoskope, die Cartoons und die Ankündigungen für Strom- und Wasserausfälle. Manchmal schaffe ich es nicht, alles vor dem Einschlafen zu lesen, dann hebe ich die Reste für den nächsten Tag auf. In meiner Wohnung liegt überall zerdrücktes Zeitungspapier herum, das ich noch lesen muss. Jede Woche trage ich gewaltige Papierberge zum Abfallcontainer, der glücklicherweise direkt vor dem Haus steht. Besonders genau lese ich den Inseratenteil. Jeden Mittwoch steckt in der Novi list, einer ideologischen Mischung aus Pfarrmitteilung, Schülerzeitung, Regenbogenpresse und Amtsblatt, eine umfangreiche Beilage mit Anzeigen. In der Rubrik „Immobilien“ wird ein Apartment zum Kauf angeboten, inklusive einer Gruft in unmittelbarer Nähe des Friedhofs am Hügel von Trsat. Eine Ziege wird gegen zwei Schweine getauscht, der katholische Kirchenchor sucht dringend Sänger und Sängerinnen. Ich telefoniere mit dem Chorleiter, verschweige aber, dass ich vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten bin und meine Stimme gelegentlich zum Krächzen neigt. Die Zusage kommt prompt und ich werde vom Korrepetitor und von den Mitgliedern des gemischten Chors Cantores Sancti Viti mit offenen Armen und Herzen aufgenommen. Jeden Montagabend marschiere ich zur Gesangsprobe. Ein liebenswürdiger, dicklicher junger Mann begleitet die altslawischen Gesänge am Klavier, der Chor singt nach Leibeskräften, auch wenn der etwas cholerische Chordirigent, bekleidet mit gestreifter Pyjamahose und geripptem, ärmellosen Unterhemd, seinen Taktstock in Richtung der Soprane schleudert, welche seiner Meinung nach nicht den richtigen Ton treffen. Um die widerspenstigen Tenöre zu zähmen, greift er nach dem Notenpult und droht, es ihnen an den Kopf zu werfen. Manchmal kommt ein Murren auf, das aber gewöhnlich rasch in ein melodisches Halleluja verklingt.
Ich hingegen bemühe mich, ein bisschen nachsichtiger mit den Einheimischen umzugehen. Viele Jahrhunderte hindurch wurden sie von allen möglichen Seiten in die Zange genommen. Zuerst von den Türken und Venezianern, dann zwickten die Ungarn und die Österreicher, nicht zu vergessen die Italiener, die Deutschen, die Serben und letztendlich kam auch noch der Schlendrian. Der hat die Kroaten gerade jetzt im Würgegriff. Das kann man ganz leicht in den Cafés, Bars, Bistros, Pubs und Tavernen erkennen, wo bereits um sieben Uhr morgens reger Kundenbesuch herrscht. Diese