Bianca Kos

Wasserstaub


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Rjeˇcina, welches, im Gleichklang mit dem vom Norden kommenden Touristenstrom, in den Süden strebt. Meiner persönlichen Statistik nach sitzt die Hälfte der Einwohner vierundzwanzig Stunden lang im Kaffeehaus. Die andere Hälfte ist gerade auf dem Weg dorthin.

      Ich wohne in einem Haus im Stadtzentrum. Gestern ist der Hauseingang mit dicken Brettern zugenagelt worden. Gut, es gibt ja auch noch einen schmalen Nebeneingang. Über eine breite Marmortreppe gelangt man in den ersten Stock, wo die erste Tür links zu einem französischen Sprachinstitut führt, die nächste zu einer Werkstatt für Handarbeiten. Außen klebt ein Zettel mit Terminen für Häkel-, Strick- und Stickerei-Workshops. Eine Tür auf der rechten Seite ist vollkommen nackt, nichts deutet auf einen Bewohner oder einen Betrieb hin. Im darüberliegenden Stock ist die Eingangstür mit dem Wappen der Ustascha verziert. Das bedeutet, dass sich hier das örtliche Büro der HSP, der rechtsradikalen Partei Kroatiens, befindet. Auf der anderen Seite des Flurs ist an der Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift Motiva angebracht, es ist der Firmenname einer Neurolinguistischen Programmierungs-Gesellschaft. Im Stock darüber residieren – wenig aufregend – eine Steuerberatungskanzlei, der Pferdeklub, ein Verein für Amateurfotografen, ein Architekturbüro und das Forstamt. Im vierten Stock wird die Decke niedriger, das Licht schummriger, die Türen verbeulter und die Namensschilder unlesbarer. Dort wohnen ein paar Familien und ich.

      Am Ende der Eingangshalle im Erdgeschoß befindet sich ein mit einem Gittertor abgeschlossener Raum, aus dem es nicht gut riecht. Spätnachts ist er geöffnet. Zu diesem Zeitpunkt kann man orange gekleidete Männchen beobachten, die Container und Säcke herausschleppen und auf einen LKW verladen. Vermutlich handelt es sich dabei um den Müllraum des Café Cacao. Dieses Café, dessen Gasträume sich im südlichen Teil des Hauses erstrecken, ist wegen der üppigen Haustorten, der vielfärbigen Eissorten und des klebrigen Kinderspielzeugs im Inneren des Lokals berühmt und bei vielen Bevölkerungsschichten sehr beliebt. Um nicht noch mehr Altpapier in meiner Wohnung zu bunkern, trinke ich hier täglich einen Kaffee, lese gratis sieben weitere Tageszeitungen und Zeitschriften und bin dann über alle wichtigen und unwichtigen Vorfälle, die sich in dieser Stadt, in diesem Land und auf dem Rest der Welt am Vortag ereignet haben, vollständig im Bilde. Auf den Seiten der „Schwarzen Chronik“ informiere ich mich über Verkehrsunfälle, Taschendiebe, Rauschgifthandel, Raubmorde, Gleitschirmabstürze, Wespenstiche und verbotenes Fotografieren am Nacktbadestrand. In der Anzeigen-Rubrik „Bekanntschaften“ fällt mir ein interessantes Inserat auf: „Suche Personen als Begleitung für Kaffeehaus-Besuche und für nette Gespräche. Spiele auch gerne Karten.“ Ich bin neugierig, ob sich jemand meldet. Als Kontaktadresse steht nämlich meine Telefonnummer! Das erstaunt mich überhaupt nicht, denn ich selbst war es ja, die dieses Inserat aufgegeben hat. Unter Berücksichtigung des hier sehr populären Ausdauersports „Kaffeetratsch“, rechne ich damit, dass sich nahezu die gesamte Einwohnerschaft von Rijeka bei mir melden wird.

      Bis jetzt habe ich von den knapp zweihunderttausend Menschenseelen, welche die Stadt und die Umgebung bevölkern, leider nur einen sehr geringen Teil kennengelernt. Dazu gehören die dicke Wurstverkäuferin im Konzum-Markt, der elegante Kellner vom Café Cacao und der bosnische Hausmeister im ehemaligen Palais des Erzherzogs Joseph, in welchem das staatliche Archiv untergebracht ist. Diesem Ort verdanke ich sehr unterhaltsame Gespräche auf Bosnisch und eine anstrengende Suche nach einem Dokument, nämlich der Geburtsurkunde meiner Urgroßtante. Man hat mir erzählt, dass sie in Rijeka geboren wurde und die erste und bis heute älteste Café-Bar der Stadt betrieben hat. Ich wollte gerne mehr über ihr Leben erfahren und hatte gehofft, im Archiv Informationen über sie zu finden. Wochenlang war ich dort ständiger Gast, durchsuchte Schachteln und Mappen, entzifferte Namenslisten, atmete mehr Staub ein als Sauerstoff und traf auf einige bemerkenswerte Gattungen von Papierwürmern und weiterem von Zellulose und eingetrockneter Tinte sich ernährendem Getier – aber meine Urgroßtante fand ich nicht.

      Daraufhin habe ich mich bei meiner Lieblingstageszeitung Novi list als Mitarbeiterin beworben. Vielleicht dachte ich, dass ich auf diese Weise mehr Glück haben könnte. Ich bin Journalistin, so lautet mein Bewerbungsschreiben, kann eine langjährige Erfahrung vorweisen und würde mich freuen, wenn die von mir überaus geschätzte Zeitung Interesse hätte, mich in ihr Team aufzunehmen. Mein spezielles Aufgabengebiet bisher war das Verfassen von regelmäßigen Kolumnen. Ich verblieb mit freundlichen Grüßen und schickte das Mail an die Chefredaktion. Eine Antwort darauf ist bis jetzt noch nicht eingetroffen. Etwas später lese ich in derselben Zeitung, dass sie demnächst ihren hundertzwanzigsten Geburtstag feiert. Über die ganze Breite einer Großformatseite steht in riesigen Buchstaben: „Schreiben Sie uns Ihre Meinung, Ihre Wünsche, Ideen, Erinnerungen. Lassen Sie uns wissen, was Sie mit unserer Zeitung verbindet.“ Also schreibe ich ein zweites E-Mail mit ähnlichem Inhalt wie das erste, auf welches ich prompt eine Antwort bekomme. Der Redakteur, zuständig für außergewöhnliche Projekte, schreibt mir, er habe mein Schreiben weitergeleitet. Wohin genau, hat er nicht geschrieben, aber sicherheitshalber fange ich schon einmal mit dem Produzieren von Kolumnen an.

      Das Thema liegt schon in meiner Hand. Es ist eine Geldmünze. Ihr Durchmesser beträgt einen Zentimeter, ihr Gewicht fünf Gramm, der Wert beläuft sich auf eine kroatische Kuna. Das sind nach dem heutigen Stand Daumen mal Pi vierzehn EU-Cent. Dieses dünne und etwas abgewetzte Geldstück wird bald verschrottet werden, denn in absehbarer Zeit tritt Kroatien der Eurozone bei. Auf der einen Seite ist diese Kuna quasi ein Pappenstiel, auf der anderen Seite aber der Grund für eine hochpolitische Tragikomödie. Die Hauptrollen spielen die Staatspräsidenten zweier benachbarter, im verwandtschaftlichen Dauerclinch befindlichen Länder (Kroatien versus Serbien). Das stolze Oberhaupt des zukünftigen Eurozonen-Landes verteidigt die Entscheidung, auf die frischgebackene kroatische 1-Euro-Münze das Porträt eines berühmten kroatischen Mannes (mit serbischen Wurzeln) zu prägen, das beleidigte Oberhaupt des Nachbarlandes, unabsehbar weit entfernt von den Segnungen einer eigenen Euro-Münze, wird darob sichtlich etwas melancholisch. Und wie es auch in den besten Familien vorkommt, werden nun ein paar unelegante Wortmeldungen ausgetauscht, der eine stolpert über seine Eitelkeit, der andere schupft schadenfroh noch ein bisschen nach. Das Publikum klatscht, das Sommertheater ist perfekt. Ich freue mich auch, die Story läuft gut an, ich muss nur noch auf die Pointe warten.

      Café Choco

      Die Polizei hat einen Mopedfahrer aufgehalten, der zu schnell unterwegs war. Das steht heute in der Novi list. Es handelte sich um einen Pizzaboten. In der Folge fand die Polizei heraus, dass dieser grundsätzlich auf Pizza spezialisierte Zustelldienst auch Marihuana zustellt. Auf Bestellung werden auch Koks oder Ecstasy geliefert, versteckt in den Pizzakartons. Das entdeckten die Polizisten, nachdem sie den Mopedfahrer aufgefordert hatten, abzusteigen und die Pizzakartons auf den Boden zu stellen. Während der Pizzabote dieser Aufforderung nachkam, wunderten sich die Beamten über das Gewicht der Schachteln. Nach genauerer Untersuchung derselben fanden sie unter den Pizzen achtzehn Kilo Kokain. Der Pizzabote musste sein Gefährt stehen lassen und wurde festgenommen. Wo das Koks geblieben ist, steht nicht in der Zeitung.

      Das Titelblatt der Novi list, der meistgelesenen Zeitung der Region, bietet täglich eine frische Schlagzeile, garniert mit einem dekorativen Bild. Entweder handelt es sich um eine Jubelmeldung („Kürbiskopf aus Rijeka gewann Schönheitswettbewerb“) oder um einen brandaktuellen Skandal („Bürgermeister baut die teuerste Seilbahn der Welt“). Skandale, die die Novi list selbst betreffen, stehen nicht in dieser Zeitung. Diese sind auf Netflix zu sehen, und zwar in der Serie The Paper, der bislang einzigen kroatischen Serie auf diesem amerikanischen Streaming-Portal. Ein ehemaliger Novi list-Journalist musste sich beruflich verändern und schrieb mit Hilfe seines reichen Erfahrungsschatzes ein spannendes Drehbuch. Die wichtigsten Rollen sind besetzt von korrupten Politikern, zuvorkommenden Chefredakteuren, liederlichen Journalisten, oligarchischen Eigentümern und gerissenen Kirchenmännern, die sich untereinander zerfleischen, was von den Zuschauern begeistert verfolgt wird. Auch ich bin von der Filmstory, die augenscheinlich nur haarscharf an der Realität vorbeischrammt, sehr beeindruckt.

      Die Novi list wurde vor zehn Jahren vom Medienmogul Alberto F. gekauft. Er kaufte auch die Jutarnji list (das Morgenblatt), die Večernji list (das Abendblatt, erscheint aber auch am Morgen), La voce di popolo