Jürgen Wächter

Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit


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hat „Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit“.100 Histrionische Persönlichkeiten streben ausgesprochen nach Veränderung und Freiheit und bejahen alles Neue, sind „risikofreudig; ihnen ist die Zukunft, die mit ihren Möglichkeiten offen vor ihnen liegt, die große Chance. Dementsprechend fürchten sie nun alle Einschränkungen, Traditionen und festlegende Gesetzmäßigkeiten, die gerade die Werte für den zwanghaften Menschen sind.“101 Die histrionische Persönlichkeit lebt eigentlich in einer Pseudorealität; sie „ist die innere Spiegelung ihres Ausweichens vor der Realität in ‚Rollen‘“.102

      Eine Nachbarin von uns ist so eine Histrionische Persönlichkeit. Eine liebenswerte Person, immer fröhlich, freundlich, aktiv, spontan und flink, hilfsbereit und begeisterungsfroh. Was hat sie nicht alles schon gemacht. Früher war sie viel wandern, dann bergsteigen, danach Drachen fliegen und im Moment ist es Fallschirmspringen. Sie ist fortwährend auf irgendwelchen Kursen, mal zur ägyptischen Küche, mal zur gewaltfreien Kommunikation, dann über die sexuelle Erfahrung beim Gruppenspeeddating. Hauptsache, es gibt dabei keine Regeln, die sind ihr ein Graus. Sozial ist sie voll engagiert. 2015 unterstützte sie eine eingewanderte Familie aus dem Libanon, war dann bei Fridays for Future, dann bei Greenpeace auf einem Schiff gegen den Walfang und demonstrierte 2019 gegen den Feinstaub. Alles vielleicht ehrenhaft gemeint, doch nach drei Monaten spätestens verliert sie das Interesse und macht was Neues. Erst supergroßes Engagement, aber es wird ihr schnell langweilig, sie gibt ihr Thema auf und widmet sich dem nächsten. In ihren Liebesbeziehungen ist es nicht anders. Sie kennt Gott und die Welt, erfährt auf den Straßen eine nicht endende Folge von Begrüßungen und die Nachbarschaft hat irgendwann aufgehört, die Zahl ihrer Freunde und Liebhaber mitzuzählen. Mit keinem lief es länger als ein halbes Jahr. Trotzdem erscheint sie immer glücklich. Doch eigentlich hat sie nur Angst vor Stabilität und Stetigkeit. Das würde ihre Freiheit einschränken, würde sie als gefangen empfinden. Was sie nicht merkt, ist, dass hier eine Angst übertrieben wird. Sie weiß nicht einmal, dass sie von einer Angst beherrscht wird. Aber sie ist genauso wie die Zwangshafte Persönlichkeit von ihr gefangen, nur eben auf der anderen Seite des Spektrums zwischen der Angst vor Veränderung und der Angst vor Verharrung.

      So extrem ist es bei den meisten Histrionischen Personen nicht, aber schaut man sich ihre Biographien an, so entdeckt man doch eine große Vielseitigkeit an Interessen, Tätigkeiten, Arbeitsbereichen und Erfahrungen.

      So haben die Histrionischen Menschen Kreativität für jede Lebenslage. Mögen sie von den Zwanghaften Menschen schief angesehen werden und als skurril betrachtet werden, in Notzeiten sind es oft die Histrionischen Menschen, die auf neue Ideen kommen, die Lösungen für Probleme finden, die andere nie entdecken würden, die so quer denken, dass ihnen große Entdeckungen und Erfindungen gelingen.

      Für Regierungen ist die Histrionische Persönlichkeit ungefährlich, solange man ihr immer wieder ein neues Thema präsentiert. Viele Pressevertreter lieben sie heutzutage, da sie Schlagzeilen liefert. Aber diese Ungefährlichkeit und Innovationsfreude kann sehr plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Springt die Persönlichkeit auf den Widerstand gegen die Regierungen zur richtigen Zeit auf, können sie spontan dafür sorgen, dass die kritische Protestmasse entsteht, die die Regierungen durch Aktionen wegfegen kann, an die die vorherigen Demonstranten überhaupt nie gedacht haben. Diese Menschen stehen für das Neue. Ihre Ideen braucht es nach dem großen Weltsystemwechsel, wenn es darum geht, eine neue Gesellschaft und ein neues Politik- und Wirtschaftssystem aufzubauen.