hat „Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit“.100 Histrionische Persönlichkeiten streben ausgesprochen nach Veränderung und Freiheit und bejahen alles Neue, sind „risikofreudig; ihnen ist die Zukunft, die mit ihren Möglichkeiten offen vor ihnen liegt, die große Chance. Dementsprechend fürchten sie nun alle Einschränkungen, Traditionen und festlegende Gesetzmäßigkeiten, die gerade die Werte für den zwanghaften Menschen sind.“101 Die histrionische Persönlichkeit lebt eigentlich in einer Pseudorealität; sie „ist die innere Spiegelung ihres Ausweichens vor der Realität in ‚Rollen‘“.102
Eine Nachbarin von uns ist so eine Histrionische Persönlichkeit. Eine liebenswerte Person, immer fröhlich, freundlich, aktiv, spontan und flink, hilfsbereit und begeisterungsfroh. Was hat sie nicht alles schon gemacht. Früher war sie viel wandern, dann bergsteigen, danach Drachen fliegen und im Moment ist es Fallschirmspringen. Sie ist fortwährend auf irgendwelchen Kursen, mal zur ägyptischen Küche, mal zur gewaltfreien Kommunikation, dann über die sexuelle Erfahrung beim Gruppenspeeddating. Hauptsache, es gibt dabei keine Regeln, die sind ihr ein Graus. Sozial ist sie voll engagiert. 2015 unterstützte sie eine eingewanderte Familie aus dem Libanon, war dann bei Fridays for Future, dann bei Greenpeace auf einem Schiff gegen den Walfang und demonstrierte 2019 gegen den Feinstaub. Alles vielleicht ehrenhaft gemeint, doch nach drei Monaten spätestens verliert sie das Interesse und macht was Neues. Erst supergroßes Engagement, aber es wird ihr schnell langweilig, sie gibt ihr Thema auf und widmet sich dem nächsten. In ihren Liebesbeziehungen ist es nicht anders. Sie kennt Gott und die Welt, erfährt auf den Straßen eine nicht endende Folge von Begrüßungen und die Nachbarschaft hat irgendwann aufgehört, die Zahl ihrer Freunde und Liebhaber mitzuzählen. Mit keinem lief es länger als ein halbes Jahr. Trotzdem erscheint sie immer glücklich. Doch eigentlich hat sie nur Angst vor Stabilität und Stetigkeit. Das würde ihre Freiheit einschränken, würde sie als gefangen empfinden. Was sie nicht merkt, ist, dass hier eine Angst übertrieben wird. Sie weiß nicht einmal, dass sie von einer Angst beherrscht wird. Aber sie ist genauso wie die Zwangshafte Persönlichkeit von ihr gefangen, nur eben auf der anderen Seite des Spektrums zwischen der Angst vor Veränderung und der Angst vor Verharrung.
So extrem ist es bei den meisten Histrionischen Personen nicht, aber schaut man sich ihre Biographien an, so entdeckt man doch eine große Vielseitigkeit an Interessen, Tätigkeiten, Arbeitsbereichen und Erfahrungen.
Regeln werden von diesen Menschen umgangen, wo immer es geht. Sie müssen Sinn machen, sonst hält man sich nicht an sie. Feste Arbeitszeiten? Nein. Verkehrsschilder? Lassen sich weit interpretieren. Gesellschaftliche Konventionen? Ebenso. Natürlich werden auch die Coronaregeln locker gesehen. Eine Frau schrieb spaßig: „Ich prognostiziere mal, dass in diesem Jahr die Leute erheblich zunehmen werden und erheblich mehr rauchen werden, weil das ihre Ausreden sind, wenn sie mal ihre Masken runterfummeln wollen. Ich sehe in der Stadt, da wo Maskenpflicht herrscht, dauernd Leute essend und rauchend durch die Straßen rennen. Das ist wirklich auffällig, sehr lustig.“103
Die Histrionische Persönlichkeit findet immer wieder Auswege, um aus den Regeln ausbrechen zu können. Die folgende Geschichte beschreibt, wie man den Maskenzwang umgehen konnte: „Seitdem das bei uns mit dem Maskenzwang losging, habe ich keine Lust mehr, in Läden zu gehen. Mittlerweile kenne ich bei mir im Ort die Geschäfte, wo ich ohne Maske einkaufen kann, ohne von irgendwelchen Bediensteten angepöbelt zu werden. Aber am schlimmsten ist es in den Supermärkten. Nicht nur, dass die Beschäftigten da meist strikte Anweisung haben, jeden Maskenlosen anzugiften. Allein diese vielen gesichtslosen Wesen mit ihren Masken, denen die Dummheit damit ins Gesicht geschrieben ist, dieses Zeigen von Unterwürfigkeit und fehlenden Stolzes, schlagen mir tief aufs Gemüt. Einkäufe beschränke ich daher auf das absolut Unabkömmliche, das über das Internet nicht bis an die Haustür lieferbar ist. Früher habe ich gerne die kleinen Läden im Ort unterstützt, aber anmeckern lasse ich mich dafür nicht. Was mir jedoch fehlt, ist mal ab und an ein kleiner Bummel durch Läden, mal hier und da schauen und sich inspirieren lassen. Da ich nur eine Autostunde von der niederländischen Grenze entfernt wohne, kam ich auf die Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. In den Niederlanden erfolgt die medizinische Beratung der Politik durch das Outbreak Management Team (RIVM). Dieses vertrat stets die Meinung, dass Masken nicht notwendig sind, wenn die Abstandsregel von 1,5 Metern eingehalten wird.104 Daher gab es dort keine Maskenpflicht. Zack auf die Autobahn, und schwupps war ich in Oldenzaal, dem ersten Städtchen hinter der Grenze. Wo ich hinkam, herrschte reges Treiben, die Menschen waren fröhlich und freundlich, redeten miteinander, begrüßten sich mit Handschlag und waren frei und zufrieden. So schlenderte ich über den Markt, kaufte dies und das, schaute mir die Basilika an, trank ein kopje koffie in einem Café und freute mich über den leckeren Kuchen. Meine geringen Kenntnisse des Niederländischen in Verbindung mit Plattdeutsch reichten völlig aus, zumal die meisten Niederländer auch sehr gut Deutsch sprechen. Endlich hatte ich in Läden mal wieder nette Gespräche. In Deutschland wird man in manchen Läden ja schief angesehen, wenn man zu viel Mühe macht. Hier aber galt der Kunde noch als König. Ich erzählte über meine guten Erfahrungen und meine beste Freundin fragte mich, ob wir da nicht mal zusammen hinfahren könnten. Klar, sehr gerne. So ging’s morgens am 30. September 2020 los und bald sahen wir uns den kleinen Ort De Lutte an. Dort gibt es mehrere schöne Restaurants und Cafés und einen Klompenwinkel, eine kleine Werkstatt, wo Holzschuhe gefertigt werden. Da alles so nett war, beschlossen wir, bis zum nächsten Tag zu bleiben. Nach einem ausgiebigen Frühstück fielen uns ein paar Leute auf, die Masken trugen. Waren das Deutsche, die hier ihren Unterwerfungszwang nicht ablegen konnten? Nee, sie sprachen Niederländisch. Merkwürdig, gestern gab es so etwas noch nicht. Wachgerüttelt wurden wir dann, als wir Mittag essen wollten. In einem Pannekoekenhuis sah es sehr leer aus und ein Gast lief uns entgegen, schnell davon wegeilend. Wir betraten eine Terrasse und eine ältliche Dame schnauzte uns an. ‚Sind Sie gesund?‘ ‚Bitte was?‘ ‚Ob Sie gesund sind, sonst kommen Sie hier nicht rein‘, blökte sie unfreundlichst weiter. Wir waren sichtlich geschockt. So etwas hatten wir in den Niederlanden noch nie erlebt. Die Alte wirkte wie eine Gefängnis-Aufseherin, aber nicht wie die sonst freundlichen Niederländer. Nach weiteren frechen Anordnungen der Frau drehten wir uns um und erklärten ihr, wir würden nun da essen, wo man freundlicher zu uns sei. Sie meinte, was andere Gaststätten machen, interessiere sie nicht, bei ihr herrsche ab heute Ordnung. Das ‚ab heute‘ ließ einen schlimmen Verdacht aufkommen und so kauften wir den Telegraf, eine der größten niederländischen Tageszeitungen. Dort wurde die böse Vorahnung wahr. Nach Druck von der zweiten Kammer hatte das Kabinett in den Niederlanden mit Wirkung vom 01.10.2020 den dringenden Rat (dringende advies) ausgegeben, von nun an im ganzen Land in öffentlichen Innenräumen Masken zu tragen. Allerdings wolle Premier Mark Rutte von einer Pflicht nichts wissen.105 Jetzt gingen also auch die Niederlande diesen Weg des Irrsinns mit. Wir wurden traurig. Aber im Restaurant vom Vortag war man wieder nett und wir aßen zu Mittag. Mitte Oktober wurden die Coronaregeln in den Niederlanden deutlich verschärft, indem nun doch eine Maskenpflicht sowie eine vierwöchige Schließung aller Kneipen, Cafés und Restaurants vorgesehen wurde.106 So zerstört man ein Paradies. Aber wir werden uns etwas Neues einfallen lassen.“ Ab Juli 2021 kehrte in den Niederlanden dann wieder die Normalität ein und maskenfreies Einkaufen war wieder möglich; und kein Niederländer lief mehr mit diesen Dingern rum.
So haben die Histrionischen Menschen Kreativität für jede Lebenslage. Mögen sie von den Zwanghaften Menschen schief angesehen werden und als skurril betrachtet werden, in Notzeiten sind es oft die Histrionischen Menschen, die auf neue Ideen kommen, die Lösungen für Probleme finden, die andere nie entdecken würden, die so quer denken, dass ihnen große Entdeckungen und Erfindungen gelingen.
Für Regierungen ist die Histrionische Persönlichkeit ungefährlich, solange man ihr immer wieder ein neues Thema präsentiert. Viele Pressevertreter lieben sie heutzutage, da sie Schlagzeilen liefert. Aber diese Ungefährlichkeit und Innovationsfreude kann sehr plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Springt die Persönlichkeit auf den Widerstand gegen die Regierungen zur richtigen Zeit auf, können sie spontan dafür sorgen, dass die kritische Protestmasse entsteht, die die Regierungen durch Aktionen wegfegen kann, an die die vorherigen Demonstranten überhaupt nie gedacht haben. Diese Menschen stehen für das Neue. Ihre Ideen braucht es nach dem großen Weltsystemwechsel, wenn es darum geht, eine neue Gesellschaft und ein neues Politik- und Wirtschaftssystem aufzubauen.