sozialen Gruppen entstammten, für deren Arbeit aber spezifische Kompetenzen vonnöten waren. Das ist ein zentraler Grund, warum die entstehenden Staaten so sehr daran interessiert waren, Universitäten zu gründen. Der Fiktion nach standen diese Leute dem Fürsten mit ihrem Rat zur Seite, weshalb nicht nur sie sich selbst „Räte“ (Geheime, Regierungs-, Staats-Räte) nannten, sondern auch in einem Kollegium, dem Rat (Council, Conseil, Consejo) zusammensaßen, und zwar – das war wichtig – gleichberechtigt: Hier wurde nicht nach Rang, sondern nach Sachlage diskutiert. Das Kollegialprinzip lässt sich für diese frühen Regierungsinstitutionen überall nachweisen.20
(2.) Wenn auch der Fürst überall als der Hüter (nicht der Herr!) des Rechts erschien und seine Rechtsprechung eine primäre Herrschaftsaufgabe war, dauerte die Verstaatlichung des Rechts, die in England frühzeitig vor sich gegangen war, auf dem Kontinent länger und bildete sich auch bis in die Späte Neuzeit nicht vollständig aus.21 Regionale Gewohnheitsrechte, die ihre Legitimität vor allem aus der Tradition bezogen, ließen sich bis ins 19. Jahrhundert nicht verdrängen. Ihren Beginn hat die rechtsförmige Vereinheitlichung aber im Spätmittelalter. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung in die politischen Verbände hinein spielte die Kirche, denn sie hatte früh ein einheitliches Recht entwickelt, das dem rechtsförmigen Verfahren einen hohen Wert beimaß. Eine Juristenzunft bildete sich in den Rechtsschulen (etwa in Paris, in Oxford oder in Bologna) aus, die ihrerseits mit einer aktiven Lobbypolitik ihren Einfluss vergrößerte. Zunehmende Verwaltungsaufgaben und die Professionalisierung der Juristen verstärkten sich gegenseitig. Zentrale Rechtsinstitutionen entstanden; in England übten sie einen prägenden Einfluss auch auf untere Rechtsebenen aus und schufen so einheitliche Rechtsverständnisse mit. Im Reich gelang dieser Prozess nicht. Das Reichskammergericht und der Reichshofrat konnten das Recht nicht zentralisieren, weil die Landesherren sich das Recht nicht aus der Hand nehmen lassen wollten; vor allem das Reichskammergericht galt auch nicht eben als effektiv. Doch mit der Existenz solcher Institutionen wurde das rechtliche Argument die zentrale Ebene, auf der Konflikte vor allem zwischen Einzelstaaten verhandelt werden sollten. Damit trat die Gewalt innerhalb des Reiches in den Hintergrund – bevor man in den Krieg zog, klagte man lieber.
(3.) Auch wenn die Frühe Neuzeit als eine besonders kriegerische Phase der Staatsbildung gelten muss (s. dazu Kap. 2): In unterschiedlichem Ausmaß sind auch im Späten Mittelalter Wellen der Friedlosigkeit über die europäischen Gesellschaften hinweggegangen. In Frankreich war das der Hundertjährige Krieg (1337– 1453), in dem es (grob gesagt) um die Ansprüche Englands auf West- und Südwestfrankreich ging (der englische König war bekanntlich ursprünglich ein Vasall des Königs von Frankreich gewesen). In England waren es die konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen Krone und Adel im 13. Jahrhundert, im Deutschen Reich die Zeiten des Interregnums (1250–1273), als beinahe ein Vierteljahrhundert lang keine königliche Oberhoheit bestand und die alltägliche Gewalt – man erinnere sich: Jeder freie Mann konnte sein Recht selbst gewaltsam in die Hand nehmen! – eine ubiquitäre Erfahrung war. Diese Erfahrung führte nicht nur zu ersten zaghaften Ansätzen bei der Einführung eines stehenden Heeres anstatt der sonst üblichen Söldner, den berittenen Ordonnanz-Kompanien in Frankreich (1445). Die Kriegserfahrung bedingte auch, dass die Friedenswahrung zu einem besonders hohen Ziel der zentralen Macht wurde. In dieser Zeit gewann vor allem im Reich die Landfriedensbewegung an Kraft, die erstrebte, dass Machtträger auf ihr Fehderecht, also die Anwendung ihrer legitimen Gewalt zur Durchsetzung von Ansprüchen verzichteten und sich stattdessen mit Methoden des Rechts begnügten; dass sie also Momente ihrer eigenen Souveränität zugunsten von Rechtsverfahren aufgaben. In Frankreich war die Bewegung schon im späten 11. Jahrhundert entstanden. Es entstanden regionale Landfriedensbündnisse und – allerdings kurzlebige, immer nur temporäre – reichsweite Landfrieden. Erst 1495 wurde von König Maximilian ein „Ewiger Landfriede“ verkündet, der das individuelle Fehderecht verbot (mit der Begründung, dass der Krieg gegen das Osmanische Reich Priorität vor den Streitereien in der Familie habe): Erst seit diesem Datum gibt es die Fiktion (mehr war es vorerst nicht), dass im Inneren Friede der Normalfall sei, und nicht Fehde/Krieg/Gewalt. Das Bedürfnis nach Frieden im Inneren und die Verrechtlichung der politischen Beziehungen standen miteinander in Zusammenhang.
(4.) Auch das Steuersystem der modernen Staatlichkeit hatte seine Ursprünge im Krieg, und das hatte Auswirkungen auf die politische Partizipation. In Frankreich führte das ewige teure Kriegführen zur Einführung von regelmäßigen Steuern. Wie auch in England hatte diese Kontinuität der Steuerzahlung die naheliegende Konsequenz, dass die Steuerzahler mitreden wollten, so dass Repräsentantenversammlungen der Stände einberufen wurden, um über die Steuerhöhe regelmäßig zu bestimmen: Das war die Urform der modernen Parlamente. Mit dem Späten Mittelalter finden wir überall Ständeversammlungen vor, in denen Vertreter der rechtlich verfassten Korporationen, aus denen die mittelalterliche Ordnung bestand (der Stände), ein Mitspracherecht bei den Landesangelegenheiten beanspruchten. Die Versammlungen vertraten also nicht Individuen und auch nicht ein Staatsvolk, sondern Gruppen. Zu ihren Aufgaben gehörte die Entscheidung über die Erhebung und Verwendung der Steuern (und also mittelbar über Krieg und Frieden), immer mehr aber auch allgemeine Rechtsangelegenheiten. Die Ständeversammlungen (z. B. das englische Parlament oder der Reichstag im Heiligen Römischen Reich) wurden bei Bedarf oder auch periodisch für eine gewisse Zeit zusammengerufen, besaßen also nicht das Recht der Selbstversammlung und tagten nicht in Permanenz.
(5.) Komplementär dazu entwickelte sich ein neues Verständnis von den Aufgaben der Politik: die Förderung des Gemeinwohls als deren höchste Aufgabe.22 Vor allem von humanistischen Theoretikern wurde das „bonum commune“ zum Zweck der Politik erhoben und damit den politischen Führungen eine neue Erwartung an ihr Handeln mitgegeben. Daraus entwickelte sich in der Frühen Neuzeit die Konzeption der „Guten Policey“, die die Untertanen nicht nur disziplinierte, sondern sich auch um sie sorgte, die diese Untertanen aber auch erziehen und den Staat in ihr Herz pflanzen wollte. Die Spannung zwischen gewalttätigem und benevolentem Staat, die sich durch die Neuzeit ziehen sollte, war hiermit angelegt.
(6.) Schließlich ist noch eine Entwicklung zu nennen, die nicht auf den ersten Blick „staatlich“ genannt werden kann: der Aufschwung der Städte, die, ausgehend von Italien, vom intensivierten Handel und Gewerbe profitierten.23 Die Städte wurden zu den Kristallisationspunkten des entstehenden Kapitalismus, es entstand ein wohlhabendes Handels- und Finanzbürgertum mit weitgespannten wirtschaftlichen Kontakten. In Italien, wo eine zentrale Staatlichkeit wegen der Macht des Papstes bis ins 19. Jahrhundert gehindert war, führte dies zur Ausbildung von mächtigen Stadtrepubliken: Venedig, Florenz, Genua, Mailand. Auch in Frankreich oder Deutschland waren die Städte selbstbewusst und schlossen sich verschiedentlich zu Städtebünden – z. B. der Hanse oder dem Schwäbischen Städtebund – zusammen, entwickelten aber keine Staatlichkeit. Die Städte und ihre wohlhabenden Bürger waren die wichtigsten Finanzquellen für die Monarchen, die für die Kriegsführung Geld brauchten. Geldhäuser wie die Fugger oder die Welser in Augsburg und Nürnberg erfüllten diese Funktion; kapitalistische Bürger waren sehr viel finanzkräftiger als die Monarchen, der Kapitalismus ein Geburtshelfer des modernen Staates. In den Städten gab es aber auch die Rechtsfigur des (Stadt-)Bürgers, die Zugehörigkeit und Mitsprache – etwa im Stadtrat – als rechtliches Privileg verbürgte (und der sich meist nur eine Minderheit der Stadtbewohner erfreute). Diese Stadtbürgerschaft wurde zu einer Protoform der späteren Staatsbürgerschaft. Die okzidentale Stadt – und nur sie – verstand sich, so Max Weber, als eine Genossenschaft und war insofern ein Gegenbild zum Untertanenverband, als der die monarchische Herrschaft erschien.24 Maßgebliche Anregungen für die Demokratisierung des politischen Gemeinwesens sind vom Ideal der genossenschaftlich organisierten, sich nach eigenem Recht verwaltenden Stadt ausgegangen.
Ebenso wenig wie man sich die Ausbildung von Staatlichkeit als eine rationale, gar geplante Angelegenheit vorstellen darf, darf man sie nicht allzu sehr als einen institutionellen Prozess verstehen. Im Gegenteil: Staatsbildung in der Frühen Neuzeit war eine höchst personale Angelegenheit, beruhte auf persönlichen Netzwerken. „Freundschaft“ und „Familie“ standen als Metaphern für informelle Solidaritäts- und Loyalitätsbeziehungen, die Machtknäuel bildeten und namentlich Zentrum und Peripherie zusammenhielten. Patronage und Klientelwesen, das, was man landläufig