abzustimmen. Staatsbildung verlief also eher durch Interaktions- als durch Institutionengeflechte. Der Aufbau frühneuzeitlicher Staatlichkeit ist ohne diese Instrumente nicht zu denken.25
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation spielte im Prozess der Staatsbildung eine Sonderrolle.26 Im Unterschied zu den anderen Ländern Europas gelang es hier nicht, die Monarchie als Zentralgewalt zu etablieren. Dafür gab es viele Gründe; ein wichtiger lag in der oben schon angesprochenen anderen Entwicklung des Lehensrechts. Der Kaiser konnte sich deshalb nicht auf zentrale Machtmittel stützen, sondern war auf die Entwicklung einer Hausmacht angewiesen, und damit wurde er selbst ebenfalls zum Territorialfürsten, der den Ausbau seiner eigenen Landesherrschaft im Auge haben musste. Die Habsburger haben im Lauf ihrer jahrhundertelangen Inhaberschaft der Kaiserwürde eine territoriale Herrschaft aufgebaut, die aus Deutschland hinauswies und ihren Schwerpunkt in Südosteuropa hatte.
Sodann: Faktisch schon seit dem Ende des 12. Jahrhunderts, verrechtlicht mit der Goldenen Bulle (1356), wurde das Reich endgültig zu einer Wahlmonarchie, und auch wenn über Jahrhunderte ein Habsburger gewählt wurde: Eine Wahl bedeutete immer Zugeständnisse an die Kurfürsten, die sich ihre Stimmen teuer bezahlen ließen. Auch dieses „demokratische“ Element trug zur Zentralitätsschwäche und zur Abhängigkeit von den großen Territorialfürsten bei. Dass ein Teil der Kurfürsten geistliche Herrscher und somit die kirchlichen Interessen gleichzeitig staatliche Interessen waren, stellte die Religion als ein originär politisches Problem im Reich auf Dauer. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs stützte sich die Macht des Kaisers vorrangig auf die kleinen, die „mindermächtigen“ Herrschaften, die sich durch seinen Schutz dagegen versicherten, von ihren größeren Nachbarn geschluckt zu werden. Eine heterogene Vielgestaltigkeit von Herrschaftsrechten wurde so konserviert, eine einheitliche Untertanenschaft ließ sich nicht schaffen.
Es gab dabei durchaus immer wieder Initiativen, Kompetenzen beim Kaiser zu konzentrieren, die als Bemühen um eine Zentralisierung der staatlichen Macht verstanden werden können. Peter Moraw hat den Prozess „gestaltete Verdichtung“ genannt: keine Staatsbildung im Sinne einer Zentralisierung, aber eine Konzentration von Institutionen und Kommunikation um den Kaiser und den Hof herum.27 Der Wormser Reichstag von 1495 entwickelte ein Reformpaket, an dem Maximilian I. und die Reichsstände aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus Interesse hatten. Dieser Reichstag war als solcher schon eine Neuheit, weil erstmals ein Gremium aus den Mächtigen des Reichs einen Beratungsort fand, der für sich die Institutionalisierung des Reichs anzeigte und dauerhaft Stabilität gewann. Mit der Zeit sollte er sich, periodisch zusammengerufen, zu einem wichtigen Kommunikationsmedium entwickeln, erst recht, seit er (seit 1663) „immerwährend“ als Gesandtenversammlung in Regensburg tagte und so eine kontinuierliche Institution wurde, die weniger der Entscheidung und dem Machen von Gesetzen als vielmehr der inneren Kohäsion im Reich diente – und einer Relativierung der kurfürstlichen Macht, denn diese waren bis dato die einzigen, die sich aus eigenem Recht versammeln konnten.28 Ein Ewiger Landfriede war die zentralste Regelung des Wormser Reichstags: ein bisher ungekanntes, zeitlich unbefristetes Fehdeverbot, das einen Schritt zur Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols darstellte; dessen andere Seite war die Einrichtung von Rechtsinstitutionen, um Konflikte zu behandeln, hierin vor allem das Reichskammergericht, das als letzte Instanz für die Rechtsprechung fungieren sollte. Diese letzte Instanz war allerdings bisher der Kaiser selbst gewesen, so dass Fehdeverbot und Verrechtlichung in Hinsicht auf die Entwicklung von Staatlichkeit ambivalent blieben. Als Reaktion darauf hat Maximilian dann auch seinen Reichshofrat in Wien, der ebenfalls eine rechtliche Letztinstanz war, mit neuen Kompetenzen ausgestattet. Eine historisch wegweisende Rolle hätte der Gemeine Pfennig spielen können: der erste, zunächst auf vier Jahre begrenzte Versuch einer zentralstaatlichen Steuererhebung von allen Einwohnerinnen (!) und Einwohnern des Reiches über 15 Jahren anstatt der von den Reichsständen zu leistenden jährlichen Abgaben. Wäre dieses Konzept umgesetzt worden, hätte die zentrale Herrschaft eine stabile und kontinuierliche Finanzierung zur Hand gehabt und wäre nicht mehr auf die Fürsten angewiesen gewesen. Und deshalb scheiterte der Gemeine Pfennig auch: Die Landesherrn wollten eine solche Steuer nicht, die ihre Macht beschränkt hätte.
Trotz solcher Bemühungen, die es auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder gab (auch der Dreißigjährige Krieg war ein Versuch, mit kriegerischen Mitteln die Zentralmacht zu stärken): Die weitere Entwicklung der Staatlichkeit im Reich vollzog sich auf der Ebene der Territorialstaaten. Hier, in Bayern, Sachsen oder Brandenburg-Preußen, wurde eine durchsetzungsfähige zentrale Herrschaft etabliert, die sich auf Bürokratie, Militär, Justiz und Steuererhebung stützen konnte. In England, Frankreich und Spanien hat sich ein zentraler Staat sehr viel konsequenter durchgesetzt; nicht zuletzt daran lag es, dass hier frühzeitig ein nationales Bewusstsein entstand. Andererseits war das Reich, anders als die europäischen Rivalen, nur zu Verteidigungskriegen, nicht zur Expansion fähig, so dass Eroberungskriege ausblieben (was man von seinen Einzelstaaten und gerade Preußen nun nicht sagen kann). Dass die Deutschen sich so sehr Gedanken um den Staat machten, hat mithin auch den Grund, dass die deutsche Staatlichkeit eben anders – und, wie viele es sahen: defizitärer – gebaut war als die anderer Staaten. Aus dieser territorialstaatlichen Dynamik rührt auch die starke Betonung des Föderalismus in Deutschland. Die eigenartige Koordinationsstruktur, die ständiges Verhandeln und Ausgleich notwendig machte – und hieraus konnte der Kaiser durchaus Machtmittel schöpfen –, ist verschiedentlich mit der Europäischen Union von heute verglichen worden, und zwar meist mit dem Zweck einer Ehrenrettung für das Alte Reich.29 Und auch wenn dieser Vergleich hinkt (es gibt in der EU schließlich keinen Kaiser): Es ist eine interessante Parallele, wenn man nicht zentralstaatliche Machtlosigkeit, sondern die Verhandlungsstrukturen im Kopf hat und nicht den starken Staat, sondern die Kompromisskultur politischer Verbände betont.
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1Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 1995, 703. Vgl. zur Antike Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte. Auch mit Blick auf die Wahrnehmungstraditionen in der Moderne: Leppin, Das Erbe der Antike, bes. 40–82 (Griechenland), 112–182 (Rom). Eine sehr differenzierte Zusammenschau, die sich wenig um solche begrifflichen Abgrenzungen schert, aber auch über das Perserreich, die Kelten oder die Germanenreiche der Völkerwanderung spricht: Demandt, Antike Staatsformen.
2Christoph Lundgreen, Staatsdiskurse in Rom? Staatlichkeit als analytische Kategorie für die römische Republik, in: ders., Staatlichkeit in Rom?, 13–60.
3Zu den Charakteristika und den Besonderheiten der athenischen Demokratie: Hansen, Die Athenische Demokratie, v. a. 65–86.
4Zu dieser durchaus umstrittenen Frage ebd., 49–51.
5Gawantka, Die sogenannte Polis.
6Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte, 26.
7Vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. 1, 2: Die Griechen. Von Platon zum Hellenismus, Stuttgart 2001.
8Zum Folgenden die knappe Erläuterung bei Demandt, Antike Staatsformen, 394–404. Zur aktuellen Diskussion: Lundgreen, Staatlichkeit. Hiernach auch im Weiteren.
9Karl-Joachim Hölkeskamp, Concordia contionalis. Die rhetorische Konstruktion von Konsens in der römischen Republik, in: Egon Flaig unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung, München 2013, 101–128.
10Martin Jehne, Das Volk als Institution und diskursive Bezugsgröße in der römischen Republik, in: Lundgreen, Staatlichkeit, 117–137.
11Wilfried Nippel, „Aufruhr“ und „Polizei“ in der römischen Republik, Stuttgart 1988.
12Vgl. Pohl/Wieser, Der frühmittelalterliche Staat; Stefan Esders, „Staatlichkeit“, Governance und Recht im (westlichen) Mittelalter, in: Schuppert (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 77–100.
13Hierzu nun, in einer globalen Perspektive: Meier, Völkerwanderung.
14Roman Deutinger, Staatlichkeit im Reich der Ottonen – ein Versuch, in: Pohl/Wieser, Der frühmittelalterliche Staat, 133–144.
15Dendorfer, Lehenswesen.