hypnotischen Kräften begabten Unholds, endlose Varianten. Dieser Schurkentypus war vor Dr. Caligari eine eindimensional-dämonische Randfigur, wie beispielsweise der ihm in der Erscheinung ähnliche Scapinelli in Der Student von Prag (1913, Stellan Rye). Erst Das Cabinet des Dr. Caligari gab der Dämonie des Bösewichts soviel Plastizität, dass das Publikum dessen Machtbesessenheit identifizierend miterleben konnte. Gleiches gilt für die Gegenüberstellung des guten Liebhabers Francis und des bösen Verehrers Cesare, die im Grunde als zwei Seiten einer Figur zu verstehen sind, denn Letzterer repräsentiert als Somnambuler überdeutlich das schlafende Unbewusste Francis’ – auch dies eine Konstellation, die den Horrorfilm nachhaltig prägte. Bei de Lordes Bühnenadaption wurde dies noch deutlicher, denn niemand anders als der hypnotisierte Francis entpuppt sich als somnambuler Mörder. Selbst einzelne Bildmotive wurden zum Standard, beispielsweise die Entführung der bewusstlosen Heldin auf die Dächer der Stadt durch das Monster wie z. B. in King Kong (1933, Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack) oder der an Alan verübte Messermord, der noch über vierzig Jahre später in der zweiten Mordsequenz von Psycho (1969, Alfred Hitchcock) nachwirkt. Unnötig zu sagen, dass Hitchcock zeit seines Lebens ein Fan des Cabinets des Dr. Caligari war.
Für den tiefgreifenden Einfluss des Caligari-Stils auf den klassischen Horrorfilm spielt Paul Leni eine entscheidende Rolle, der nach seiner Arbeit als Szenenbildner bereits in Deutschland mit seinem Wachsfigurenkabinett (1924) einen expressionistischen Gruselklassiker abgeliefert hatte. Er und andere Emigranten transportierten das caligareske Erbe nach Hollywood. Dort suchte Leni »nach populären Ausdrucksformen und war daher geradezu prädestiniert, die Errungenschaften des filmischen Expressionismus in ein populäres, der Unterhaltung dienendes Genre, den Horror-Film, zu überführen« (Everson). Dies tat er mit The Cat and the Canary (Spuk im Schloss, 1928) und The Man Who Laughs (Der Mann, der lacht, 1928). Nicht minder wichtig ist Karl Freund, der Kameramann von Wiene, Fritz Lang und F. W. Murnau, der später Tod Brownings Dracula (1931) fotografierte und selbst die beiden Horrorklassiker The Mummy (Die Mumie, 1932) und Mad Love (1935) inszenierte. Auch Edgar Ulmer lieferte mit The Black Cat (Die schwarze Katze, 1934) eine originelle, einflussreiche Adaption des Caligari-Stils. Und last but not least der französische Emigrant Robert Florey, der für James Whales Frankenstein das Treatment nach Mary Shelleys Roman verfasste und dessen Experimental- und Horrorfilme wie die Poe-Adaption Murder in the Rue Morgue (Mord in der Rue Morgue, 1932) dem Caligari-Stil am getreuesten folgen. Denn vor allem für die Wahnsinns-Welt eines Edgar Allan Poe war die Caligari-Ästhetik wie geschaffen. So spielen neben Floreys Film Charles Kleins The Tell-Tale Heart (1928) und James S. Watsons The Fall of the House of Usher (1928) in caligaresken Kulissen. Letzterer, ein Kurzfilm, versuchte zudem, den Dekorstil mit filmtechnischen Mitteln umzusetzen: durch Zerrlinsen, Prismengläser, Mehrfachbelichtungen, die die Protagonisten regelrecht zerteilen, fragmentieren. Das Spiel der Akteure ist wahrlich expressiv, wie der Verzweiflungsschrei der wiederauferstandenen Madeline Usher. Es ist übrigens ein schweres Versäumnis der Filmgeschichte, Watsons Poe-Adaption ausschließlich als Avantgarde- und nicht auch als Horrorklassiker rezipiert zu haben.
Doch die Entwicklung der Ästhetik des klassischen Horrorfilms beruht keineswegs nur auf der Beeinflussung durch die formale Radikaliät von Wienes Klassiker, auch inhaltlich ist kaum ein Film mehr so weit gegangen. So wagte es z. B. fast kein Horrorfilm in den darauf folgenden fünfzig Jahren, den Helden, den guten Liebhaber als wahnsinnig und zuletzt in einer Pose völliger Hilflosigkeit darzustellen. Ebenso wenig riskierte es kaum ein Regisseur oder Autor mehr, die Liebe dieses Helden als pure Projektion eines Geisteskranken auf eine kommunikationsunfähige Mitinsassin zu entlarven. Diese Radikalität ist untrennbar mit der lange Zeit geschmähten Rahmenhandlung verbunden, die später hinzugefügt wurde und in vergleichsweise zurückhaltendem expressionistischen Dekor spielt. Im Mikrokosmos des Irrenhauses herrscht Melancholie, Ausweglosigkeit und Asexualität unter der Aufsicht eines zweifelhaften Direktors. Dagegen in den expressiv verschobenen, schrägen Orten geisteskranker Phantasie, da sind sie plötzlich, die vitalen Triebe: Geilheit, Hass, Mordgier, Machtwille. Die Wahrheit des Wahns steht gegen die Depressivität der naturalistischen Realwelt. Deshalb wirkt das Ende so beängstigend, deshalb misstraut man ihm, ohne dies inhaltlich fixieren zu können: weil diese Realwelt letztlich die Welt des seelischen Todes ist.
Wie stark hier eine Kritik der wahnsinnigen Vernunft stattfand, spürte Sergej Eisenstein nur zu gut, als er Das Cabinet des Dr. Caligari voller Abscheu als »barbarische Orgie der Selbstvernichtung gesunden Menschentums in der Kunst«, als »Massengrab aller gesunden Prinzipien des Films« denunzierte, obwohl sein ›gesunder‹ Stalinismus kaum als Alternative zum caligaresken Wahn in Frage kommen dürfte. Die Fundamentalkritik an der ›gesunden‹ Weltwahrnehmung, das tiefe Misstrauen gegenüber Welt und Ordnung, das nietzscheanische Spiel mit der Alternative Wahnsinn ist notwendiger Bestandteil eines jeden Horrorfilms. In Das Cabinet des Dr. Caligari erlebt man all das in bis heute unübertroffener Konsequenz.
Harald Harzheim
Literatur: Fernan Jung / Claudius Weil / Georg Seeßlen: Enzyklopädie des populären Films. Bd. 2: Der Horror-Film. München 1977. – William K. Everson: Klassiker des Horrorfilms. München 1979. – Norbert Stresau / Claudius Weil / Georg Seeßlen: Kino des Phantastischen. Hamburg 1980. – Ronald Hahn / Volker Jansen: Lexikon des Horror-Films. Bergisch-Gladbach 1985. – Peter Weiss: Avantgarde Film. Frankfurt a. M. 1995. – Mel Gordon: The Grand Guignol – Theatre of Fear and Terror. New York 1997. – David Robinson: Das Cabinet des Dr. Caligari. London 1997.
Hexen
Häxan
S 1922 s/w 83 min
R: Benjamin Christensen
B: Benjamin Christensen
K: Johan Ankerstjerne
D: Maren Pedersen (Hexe), Clara Pontoppidan (Nonne), Elith Pio (Junger Mönch), Tora Teje (Hysterikerin), Benjamin Christensen (Satan/Modearzt)
Sieben Schritte zu Satan
Seven Footprints to Satan
USA 1929 s/w 60 min
R: Benjamin Christensen
B: Richard Bee, William Irish, nach einer Vorlage von Abraham Merritt
K: Sol Polito
D: Creighton Hale (James Kirkham), Thelma Todd (Eva), De Witt Jennings (Onkel Joe), Sheldon Lewis (Die Spinne), William V. Mong (Professor)
Zu den bemerkenswertesten und zugleich wenig bekannten Horrorfilmen aus der Stummfilmära zählen die eigenwilligen Arbeiten des dänischen Regisseurs und Schauspielers Benjamin Christensen. Wenn bei ihm der Teufel auftaucht, geht es um Erziehung und Aufklärung. Die Unterweisung nimmt er zum Anlass, es möglichst satanisch auf der Leinwand zugehen zu lassen, ganz gleich, ob es sich dabei um die Belehrung des Publikums wie in Häxan handelt oder um die Erziehung eines pflichtvergessenen Millionärssohnes wie in Seven Footprints to Satan. So unterschiedlich die zwei wichtigsten Filme Christensens auch in ihrer Ästhetik sind – auf der einen Seite der episodische Filmessay über den mittelalterlichen Hexenwahn, auf der anderen Seite die meisterhafte Horrorkomödie –, so sind sie doch zwei Seiten einer Medaille. Denn beide erweisen sich als visuelle Exzesse einer de Sade’schen Phantasie, wie sie im zeitgenössischen Stummfilm nur noch Erich von Stroheim und Cecil B. de Mille erreichten. Erst kurz vor Ende schwenken sie in nüchternen Rationalismus um.
Drei Jahre arbeitete Christensen an Häxan und verband, lange bevor es den Begriff der Dokufiction gab, Dokumentarisches mit Spielszenen. Mit hohem technischen Aufwand und einer an Goya, Bosch und Breughel angelehnten komplexen Bildkomposition entführt dieser Meilenstein des expressionistischen Films den Zuschauer in flackrig-düstere Hexenküchen und auf den Blocksberg zur Walpurgisnacht. Traumversunken laufen nackte Somnambule in die Klauen des dämonischen Verführers, werden Leichenteile verspeist, küssen Hexen den Hintern des Teufels. Die spektakulären Bilder sind Jahrmarkt im besten Sinne. Christensen verwendet Puppen, Masken und jede Menge Tricktechnik. Ohne seine Pionierarbeit wären weder die Bildgestaltung noch die visuellen Effekte von Friedrich