wehrlosen Opfer nähert, hält ihn als Gräuel in verzerrter Dimension fest. Wenn Nosferatu als riesenhafter Schatten die Treppe zum Schlafzimmer Ellens hinaufsteigt, schwerelos, unaufhaltsam, entsteht derselbe Eindruck, dass man einen heimlichen und verbotenen Blick aus irgendeinem verborgenen Ort auf das Ungeheuerliche hat werfen können. Mit seinen Bildern vom personifizierten Schwarzen Mann dringt Murnau zu einer früh gebildeten und inneren Schicht unserer Gefühle vor. Ihre Korrespondenz zu Vorstellungen, die jenem frühen Alter entstammen, als zwischen Außen- und Innenwelt noch nicht strikt differenziert wurde, lässt diese ›visuellen Inventionen‹ unvergesslich werden. Das gilt für die Eindrücke von Furcht und Trost, die Murnau aus der Kindheitserinnerung, aus dem Traum, in dem sie wiederkehren, in den Film hinüberrettet: Als der Nachtmahr vom Tageslicht in Nichts aufgelöst wird, gerät dies zur unvergleichlichen Erlösungsszene. Das ›Dunkel‹ ist verschwunden. Doch so endet der Film nicht: Tote und Trauernde bleiben zurück, ratlos, unwissend, denn ihnen ist Nosferatu in Wisborg nie begegnet.
Thomas Koebner
Literatur: Lotte Eisner: Murnau. Frankfurt a. M. 1973. – Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Murnau. München/Wien 1990. (Hanser Reihe Film. 43.) – Thomas Koebner: Der romantische Preuße. In: Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Hrsg. von Hans Helmut Prinzler. Berlin 2003. (Stiftung Deutsche Kinemathek.)
Das Phantom der Oper
Phantom of the Opera
USA 1925 s/w 72 min
R: Rupert Julian
B: Raymond Schrock, Elliott J. Clawson, nach dem Roman von Gaston Leroux
K: Virgil Miller u. a.
D: Lon Chaney (Eric / The Phantom), Mary Philbin (Christine Daee), Norman Kerry (Raoul de Chagny), Arthur Edmund Carewe (Ledoux)
Gaston Leroux’ schauerromantischer Stoff von einem Gräuel-Wesen, das unter der Pariser Oper haust und aus Liebe zu einer jungen Sängerin seine Umwelt mit Gewalt und Schrecken überzieht, ist im Lauf der Filmgeschichte gleich mehrfach adaptiert worden. Nicht zuletzt dank des gleichnamigen Bühnen-Musicals von Andrew Lloyd Webber erfreut er sich auch fast hundert Jahre nach seiner Entstehung einer medienübergreifenden Popularität. Brian de Palma setzte ihn in dem Filmmusical Phantom of the Paradise (Das Phantom im Paradies, 1974) als Satire auf das korrupte Showbusiness in Szene und griff dafür auf das Motiv des faustischen Teufelspakts sowie auf Schauerelemente in Stil der Rocky Horror Show zurück, während es Dario Argentos Il fantasma dell’ opera (Das Phantom der Oper, 1998) an Schlüssigkeit zwischen kurioser Liebesaffäre und drastischen Splatter-Szenen mangelt. Als bislang letzte Version wird Joel Schumacher 2004 Lloyd Webbers Musical auf die Leinwand bringen.
Die erste und zugleich bedeutendste Filmversion von Rupert Julian beginnt hingegen beinahe als Gruselspaß, bestückt mit slapstickhaften Intermezzi, endet aber nach Schrecknissen und Morden aller Arten sowie einer dramatischen Verfolgungsjagd gut – wenn man die brutale Exekution des Phantoms denn als guten Schluss bezeichnen mag. Wie der Glöckner von Notre Dame, den der Hauptdarsteller Lon Chaney zwei Jahre zuvor gespielt hatte, oder der kleinwüchsige Hans in Tod Brownings Freaks (1932) ist das Phantom ein ebenso verzweifelt wie unglücklich Liebender. Wegen der Entstellung seines Gesichts begegnet er der verehrten Nachwuchssopranistin Christine nur mit einer Maske, auf der die Augen aufgerissen und starr aufgemalt sind, was alleine schon unheimlich wirkt. Er leitet Christine über Treppen und Gänge in die suggestiv dargestellte Unterwelt der Oper, eine nicht kartographierbare Kerkerwelt wie in Eugène Sues Roman Die Geheimnisse von Paris, gekennzeichnet durch viele Türen, Gitter, durch irreal einfallendes Licht, aus der nur dem Kundigen ein Entkommen möglich ist. Schließlich bringt er Christine als unheimlicher Fährmann in einer Gondel über einen schwarzen unterirdischen See, der an den Fluss Styx erinnert, Assoziationen ans Totenreich auslöst, zu seiner unterirdischen Behausung, die in der viragierten Fassung rot eingefärbt ist. Dann setzt sich das Phantom wie einst Kapitän Nemo in Jules Vernes Roman 20 000 Meilen unter dem Meer an die Orgel und spielt meisterlich. Christine nähert sich von hinten und streift ihm die Maske ab – nicht nur sie, auch das Publikum sieht nun sein Gesicht, das vor allem durch das leuchtende Gebiss als hässlich zu beschreiben ist, als wären die Lippen um den Mund herum weggeätzt. Dass die Augen schwarz gerändert und weit geöffnet sind, gehört zu den typischen Zeichen des im Stummfilm üblichen Schreckensantlitzes. Das Phantom stellt eine Bedingung, die einem Pakt mit dem Teufel gleicht: Christine darf noch einmal singen, dann aber gehört sie ganz ihm und muss alle weltlichen Dinge für ihn aufgeben, auch Raoul, ihren Geliebten seit Kindertagen.
Das psychologische Drama des Phantoms: Jemand, der wegen seines Äußeren Schrecken und Abscheu erzeugt, wird zum einsamen Außenseiter. Einen Sarg nutzt er als Bett: Ausdruck dafür, dass sich sein Bewusstsein an das außergewöhnliche Sein anpasst, das ihn konditioniert. Die völlige Isolation, verbunden mit der schöpferischen Fähigkeit, sich eine eigene Welt zu schaffen in der Dunkelzone der repräsentativen Institution Oper, die Treffpunkt der glanzvollen Gesellschaft ist und zugleich »Kraftwerk der Gefühle« (Alexander Kluge), lassen beide Komponenten im Phantom lebendig werden: die inbrünstige Liebe, die besitzergreifend Christine gilt, und die antisoziale Moral eines radikal ausgegrenzten Wesens, das keine Rücksicht auf das Leben anderer Menschen nimmt. Natürlich ist dieser Charakterentwurf in vielem an Mary Shelleys Konzept des Monsters angelehnt, das sie in ihrem Roman Frankenstein or the Modern Prometheus (1819) entwickelte: ein Wesen, das den Ekel der Menschen hervorruft, aber ausgestattet ist mit hoher Sensibilität. Erst die gesellschaftliche Ächtung seiner physischen Deformation führt zur psychischen Deformation, zu Wut und Hass und schließlich zu Gewalt und verbrecherischen Reaktionen.
Zweifellos fehlt dem Film im Vergleich zu Murnaus Nosferatu (1922) die tragische Vertiefung, der Doppelsinn. Auch gelingt es Julian und seinen verschiedenen Kameraleuten nicht, ›Originalbilder‹ des Unheimlichen zu erfinden. Die blau viragierten Gefängnisphantasien, die das Reich unter der Oper in diesem Film bestimmen, gibt es beispielsweise ähnlich in zeitgenössischen Spionagefilmen, zugleich drängen sich Erinnerungen an manche unterirdische Bauten in Filmen Fritz Langs auf.
Das Ungeheuer wird am Ende bei seiner Flucht auf nächtlicher Straße vom Mob umzingelt und gelyncht – die Masse exekutiert einen Menschen, den sie nicht als ihresgleichen versteht, der – zugegeben – durch Morde eine Blutspur gezogen hat. Kein irdisches Gericht erhält die Zeit, Beweggründe und Umstände seiner Verbrechen näher zu beurteilen und ein angemessenes Strafmaß festzulegen. Immerhin ist das Phantom der Oper aus Liebe zum Missetäter geworden – davor hat es sich offensichtlich nicht weiter aggressiv in die Geschicke der Oberwelt eingemischt, solange diese ihn in Ruhe gelassen und Loge 5 für ihn reserviert hat. Doch die Leidenschaft des Ausgegrenzten berührt wie in Freaks den Tatbestand des Verbotenen. Welches Recht soll das Monstrum haben, die Liebe einer schönen jungen Frau einzufordern? Keines, das bestätigt der Film von 1925. In dem Augenblick, in dem das Schreckensgesicht sichtbar wird, gleicht sich die Wesensart des Phantoms seiner äußeren Erscheinung an: In simpler Schwarzweißmalerei mutiert der hässliche Mensch zum hässlichen Charakter. So scheint die Wut der Masse berechtigt. Dass ihr dennoch die Legitimität fehlt, diesen Gedanken kann auch dieser Film nicht verscheuchen, genauso wenig wie James Whales Frankenstein (1930), an dessen Ende die zornige Meute den Abweichler in der flammenden Mühle vernichten will. Es mag die Erfahrung des 20. Jahrhunderts sein, dass man solchen Szenen vom Aufstand der Massen mit unüberwindlicher Skepsis gegenübersteht. Die Sympathie mit dem Ausgestoßenen führt wie bei Mary Shelley dazu, der »kochenden Volksseele« zu misstrauen, die sich zum Henkersdienst treiben lässt.
In einer seiner letzten Arbeiten bettet der englische Regisseur Tony Richardson seine für das Fernsehen produzierte Version des Phantom-Stoffes (1990) in ein Familiendrama ein. Der von den neuen Opernbesitzern entlassene Direktor entpuppt sich als Vater des entstellten jungen Mannes in den unterirdischen Räumen. Richardson betont die künstlerische Kompetenz des Phantoms, das als großer Kenner des Musiktheaters über Jahre hinweg aus dem Verborgenen den Spielplan und die Auswahl der Sänger mitbestimmt hat. Trotz seiner Entstellung ist er eine stattliche und elegante Erscheinung, empfindsam und unterhaltsam, so dass in dieser Version erstmals