Peter Becker

Vom Stromkartell zur Energiewende


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Kilowattstunde – wurden attraktive Angebote in den Raum gestellt und in Werbespots vor der Tagesschau aggressiv beworben. Freilich war der Anfang nicht so einfach. Zwar musste der wechselwillige Kunde lediglich eine Postkarte losschicken, mit der er nicht nur erklärte, Strom von Yello beziehen zu wollen, sondern auch die bisherigen Lieferdaten übermittelte und vor allem eine Vollmacht erteilte, den bisherigen Liefervertrag zu kündigen. Aber schon das war ein unübersichtlicher Vorgang, weil die Kunden erst lernen mussten, dass sie mit dem Wechsel des Versorgers keineswegs einen Zusammenbruch der bisherigen Netzverbindung befürchten mussten – und die Angst unbegründet war, dass bei einer Störung im Netz der bisherige Netzbetreiber (und Lieferant) nicht zur Stelle wäre.

      So konnten nicht nur die Stadtwerke Solingen Strom für 3,6 Pf. für die Kilowattstunde beziehen, und zwar in einem längerfristigen Liefervertrag mit Verlängerungsoption. Auch zahlreiche andere Stadtwerke versorgten sich günstig mit EnBW-Strom. EnBW schickte sich auch an, in die Industriekundenklientel einzudringen. Etwa die Hälfte der deutschen Stromproduktion wird ja von Industriekunden und Stadtwerken aufgenommen. Die EnBW-Angebote waren häufig etwas günstiger als die der Konkurrenz. So gelang es EnBW Stück für Stück, das Liefervolumen auszuweiten. Für dieses Liefervolumen griff EnBW auf die Ressourcen der EdF zurück, daran erkennbar, dass EnBW der größte Stromimporteur war, und überdies Strom an der Leipziger Strombörse zukaufte. Die Yello-Preise sind allerdings inzwischen Geschichte.

      RWE beobachtete dieses Treiben allerdings keineswegs widerstandslos. Vielmehr wurde der Fehdehandschuh aufgegriffen – und davon profitierte vor allem die Südweststrom GmbH, eine Tochter der Tübinger Stadtwerke, die unter ihrem tatkräftigen Chef Friedrich Weng bald zahlreiche baden-württembergische Stadtwerke zu ihren Gesellschaftern zählen konnte. EnBW hatte nämlich – vor dem Hintergrund der einmal eingeschlagenen Strategie durchaus folgerichtig – die zunächst eingelegte Berufung gegen das Urteil des Mannheimer Landgerichts in der Sache Waldshut-Tiengen zurückgenommen. Das war ein Signal an alle wechselwilligen Stadtwerke; sie liefen nicht das Risiko, auf Abnahme des langfristig kontrahierten Stroms verklagt zu werden, sondern genossen die neuartige Wahlfreiheit. Binnen kurzer Zeit wechselte etwa ein Drittel der baden-württembergischen Stadtwerke den Lieferanten.

      Lieferant war freilich nicht allein RWE mit seinem günstigen Braunkohle- und Atomstrom. Braunkohlestrom konnte vielmehr günstig auch von der VEAG bezogen werden, an der RWE beteiligt war, Vorgängerin der heutigen Vattenfall. Es gab aber auch zahlreiche andere neue Player am Markt, etwa ENRON, eine Tochter des amerikanischen ENRON-Konzerns, die über keinerlei Eigenerzeugung verfügte, sondern Strom europaweit aufkaufte. Über die Bezugsmöglichkeiten und Lieferpreise orientierte das alltäglich erscheinende ENRON-Stromfax, in dem für die jeweiligen Standorte Lieferpreise ausgewiesen waren. Andere Lieferanten, die sich vor allem an Haushaltskunden wandten, waren Zeus, Riva, Best Energy – und die kleine Berliner Ampere AG, die später mit einer kühnen Aktion von sich reden machen sollte.

      Die PreussenElektra und das Bayernwerk beteiligten sich an diesen Umbrüchen allerdings nicht in gleicher Weise. Das Bayernwerk verfügte über in langen Jahren gewachsene Lieferbeziehungen zu Stadtwerken, die – eine bayerische Besonderheit – kommunale Eigenbetriebe waren, also eher wie ein Amt der Stadtverwaltung organisiert, ohne privatrechtliche Gesellschaftsstruktur. Selbst die Münchener Stadtwerke, mit einem Absatz von etwa drei Mrd. kWh nach der Berliner Bewag – die man allerdings nicht als Stadtwerk bezeichnen kann – das größte deutsche Stadtwerk, war bis 1998 ein Eigenbetrieb. In der bayerischen Stadtwerksorganisation KEA wurden daher Wechselavancen zurückhaltend gesehen.

      Anders war das bei den PreussenElektra-Töchtern Energie-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM) mit Sitz in Kassel, an der bis 2005 Landkreise mit 54 % die Mehrheit hielten, und HASTRA in Hannover, die mit ca. 64 % zum Preussen-Elektra-Konzern gehörte. Die EAM-Strombezieher, eine Arbeitsgemeinschaft von gut 20 Stadtwerken in Nordhessen und Süd-Niedersachsen, luden zu einer Strom-Konferenz ein, auf der vier Lieferanten ihre Lieferbereitschaft und Preise bekannt geben sollten. Dazu zählte vor allem VASA, eine Stromhandelsgesellschaft, in der schwedisches Kapital steckte, sowie die EAM, die wohlweislich als Letzte auf die Tagesordnung gesetzt worden war. So hatten die Stadtwerke schon die Lockangebote der Konkurrenten gehört, auf die die Vorstellungen der EAM folgten. Dargeboten wurden diese freilich nicht von einem EAM-Mitarbeiter, sondern von einem (der wenigen) PreussenElektra-Strategen, der die Festlegungen des Konzerns bekannt gab. Diese waren allerdings nicht rundweg abzulehnen; vielmehr näherte sich die Preisstellung deutlich den Preisen der Konkurrenten (mit Aussicht auf Verbesserung). Dahinter war die Strategie zu erkennen, dass PreussenElektra die Zeichen der Zeit begriffen hatte: Die Stadtwerke sollten nicht mit der Drohung bei der Stange gehalten werden, in jedem Einzelfall um die Loslösung aus dem Vertrag kämpfen zu müssen. Vielmehr wollte man die Stadtwerke mit guten Konditionen bei der Stange halten – und so die Lieferbeziehungen retten. Diese Strategie hat denn auch über Jahre hinweg funktioniert; wobei sich die Kundenpflege auszahlte, die EAM mit Kundenveranstaltungen betrieben hatte, endend in opulenten Essen.

      Der Preiskampf war allerdings für ein Unternehmen wie EnBW nicht lange durchzuhalten. EnBW ist der kleinste der – verbliebenen – vier Konzerne und verfügt nur etwa über 10 % der deutschen Kraftwerkskapazitäten, zu denen freilich mit Philipsburg, Neckarwestheim und – bis 2005 – Obrigheim drei Kernkraftwerke mit ihrem Strom zählten, der Herstellungskosten von maximal 3 bis 3,5 Pf/kWh aufweist. Dabei handelte es sich um Grundlaststrom; Kohlekraftwerke für die Mittellast und Gaskraftwerke für die Spitzen sind im EnBW-Konzern nicht viele vorhanden. Das Niveau der Einkaufspreise bei EdF und an der Börse lag sicherlich über den eigenen Produktionskosten. Dazu kamen einige teure Akquisitionen: So kaufte sich EnBW mit letztlich 54,95 % bei den Stadtwerken Düsseldorf ein. Dazu erwarb Konzernchef Goll die notleidende Schuhfabrik Salamander, wofür freilich wohl nicht energiestrategische Überlegungen ausschlaggebend waren, sondern die Freundschaft von Goll zu Salamander-Chef Dazert. So sackte das Eigenkapital des Konzerns immer mehr zusammen und landete schließlich bei ca. 6 % – was Konzernchef Goll den Job kostete. Aber auch sein Nachfolger Utz Classen hielt an der Expansionsstrategie fest und kaufte Beteiligungen an den Stadtwerken Monheim und Hilden. Salamander freilich wurde verkauft.

       5. Und die langfristigen Gaslieferverträge?

      Die Gaswirtschaft beobachtete das Treiben auf dem Strommarkt fassungslos bis entsetzt. Wie konnte man das schöne Oligopol, die über Jahrzehnte aufgebauten Demarkationen, die gewachsenen Lieferbeziehungen binnen weniger Wochen aufkündigen und sich in einen ruinösen Preiswettbewerb stürzen? In Essen, im Haus der Ruhrgas, aber auch bei allen anderen Ferngasgesellschaften, war klar: Das machen wir nicht mit. Wir verteidigen den Gebietsschutz und die langfristigen Verträge. Das war auch die erklärte Strategie des Bundesverbandes Gas- und Wasserwirtschaft (BGW). Aber es gab eine Ausnahme: Das war die WINGAS in Kassel, ein Gemeinschaftsunternehmen der BASF-Tochter Wintershall und der Gazprom Germania mit einer Mehrheit von einem Anteil für Wintershall. Gegründet 1993 dehnte sich die WINGAS schnell aus und ist heute aktiv in Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Österreich, der Tschechischen Republik und Dänemark.

      Entstanden war sie, weil sich die BASF über die hohen Gaspreise der Ruhrgas und der Gasversorgung Süddeutschland (GVS) zur Versorgung des Unternehmensstandorts Ludwigshafen ärgerte. Der Konzern beschloss, selbst in den Gashandel einzusteigen. Dafür war allerdings – lange vor der Liberalisierung – eine eigene Pipeline nötig. Denn die Ruhrgas war entschlossen, den Zugang zu ihrem Netz nur mit ihr verbundenen Unternehmen zu gestatten. Die BASF nahm in der Tat mehrere Milliarden DM in die Hand und baute nach dem Abschluss entsprechender Lieferverträge mit der Gazprom zunächst eine Pipeline zur Versorgung des Werks Ludwigshafen, und zwar Ende der 80iger, lange vor der Liberalisierung.