der Wege gelegenen Zufluchtsstätten, meist Blockhütten oder windgeschützte Verschläge, für den nächsten Reisenden mit Nahrungsmitteln und Feuerholz zurückzulassen. Er hoffte inständig, dass sich diese Sitte erhalten hatte. Ihr Proviant wurde knapp und die Kinder froren nachts, doch er wagte es nicht, jagen zu gehen, und nur selten ein Feuer zu entzünden. Es war hart für sie, tagein, tagaus zu laufen, und zehrte an den Kräften ihrer jungen Körper, die den wenig anstrengenden Alltag des Hoflebens gewöhnt waren. Obgleich sie ihn für die aufgezwungenen Strapazen hassten und ihn ihre Ablehnung bei jeder Gelegenheit spüren ließen, erfüllte es sein Herz mit Stolz, mit welcher Ausdauer sie mit ihm Schritt hielten. Gunther zählte sieben Sommer, Heikhe elf, doch sie marschierten wie junge Krieger auf dem Weg zur ersten Schlacht. Vielleicht, dachte er, lag es auch an ihm. Abends schmerzten seine Waden und am Morgen spürte er jeden Stein und jede Wurzel, auf der er gelegen hatte. Er verbot sich derlei Gedanken. Erst wenn die Kleinen in Sicherheit waren, würde er sich erlauben, die Schwächen seines Alters einzugestehen.
In der Dämmerung fanden sie eine spärlich getarnte Höhle. Es war Balsam für die Seele des Älteren, als sie dort einen Stapel Holz vor der Feuerstelle sowie gepökeltes Fleisch und sogar ein paar Kartoffeln in einer Grube unter einem markierten Stein vorfanden.
Sogleich entfachte Heikhe unter der Anleitung Rhoderiks ein Feuer, dessen Flammen bald gierig an dem trockenen Holz leckten und eine wohltuende Wärme ausstrahlten, das aufgrund der spitzen Bauart aber kaum Rauch aufsteigen ließ. Vor ihrem Unterschlupf wuchsen Brennnesseln, die sie schnitten, stampften und in einen kleinen Topf mit Wasser gaben. Die Kartoffeln stellten sich bei näherer Betrachtung als verfault heraus, so kauten sie auf dem trockenen Fleisch und spülten es mit dem bitteren Brennnesseltee hinunter.
»Ich möchte auch mal Feuer machen«, beschwerte sich Gunther, die winzigen Hände reibend.
»Das nächste Mal«, versprach Rhoderik.
Seine Miene war finster, was Heikhe, die für ihr Alter eine ausgeprägte Sensibilität an den Tag legte, sogleich bemerkte.
Den Tonfall einer ihrer älteren Schwestern nachahmend, fragte sie: »Was bekümmert dich?«
»Dir entgeht nichts, kleine Prinzessin, wie?«
»Nein«, sagte sie altklug.
Umständlich legte er einen Scheit Holz nach.
»Wenn wir die Berge hinter uns lassen, laufen wir Gefahr, direkt ins Netz unsrer Verfolger zu geraten. Ich weiß nicht, wem wir trauen können.«
Gunther stand der Mund offen, wie immer wenn er versuchte, einem ihrer Gespräche zu folgen. Die hohle Faust Heikhes verursachte ein klatschendes Geräusch an ihrer Stirn. »Wir müssen doch nur unsren Vater finden. Er ist zwar schon alt, noch älter als du, aber er ist immerhin der König. Der stärkste Mann auf der Welt.«
Rhoderik rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Du hast recht, das ist er.«
Die Kinder sollten nichts von seinen wenig trostreichen Ahnungen erfahren, bevor sie nicht bewiesen waren.
»Dummer, alter Mann«, setzte sie boshaft hinzu, worauf Gunther amüsiert kicherte. Heikhe äffte ihn nach und ein Gerangel entstand. Rhoderik ließ sie gewähren und dachte über ihre Möglichkeiten nach. Die Stimme in seinem Traum hatte sich vage ausgedrückt und einiges von dem, was sie gesagt hatte, befürchtete er, vergessen zu haben. Der Fluss war lang. Wo würden sie jenen Krieger mit den weißen Haaren treffen? Und sollten sie es überhaupt schaffen, wie würde er wohl reagieren? Wusste er überhaupt von seiner Bestimmung? War die Stimme auch ihm im Traum begegnet?
Winselnd bettelte der kleine Gunther im Schwitzkasten gefangen um Gnade, doch seine Schwester verstärkte den Druck noch.
»Gebt Ruhe und spart euch eure Kräfte«, mahnte er. Erst als er die Hand hob, gehorchten sie.
Es gab eigentlich nur drei Optionen. Erstens: irgendwo an den Ufern warten. Das würde immerhin zu der Ungenauigkeit jener Prophezeiung passen. Und dann die beiden Höhlen des Löwen: der Hafen von Mont, doch jeder wusste um die Korruptheit des Fürsten Maet. Und als letzte Möglichkeit: der Hafen von Brisak. Bran war seit jeher ein Unterstützer des Königs und der alten Gesetze gewesen. Aber sollte er an der Verschwörung nicht beteiligt gewesen sein, war nicht einmal sicher, ob er noch lebte. Es gab zu viele Ungewissheiten, außerdem waren sie abgeschnitten von allen Neuigkeiten.
Er bettete den Kopf auf den harten, felsigen Boden und verschob die Entscheidung auf später.
Seine Hand umschloss den Griff von Orgflaed, die Berührung der kühlen Klinge wirkte beruhigend auf seine angespannten Nerven und so sank der alte Krieger in einen leichten Schlaf.
Der nächste Morgen war frisch. Das Feuer war über Nacht ausgegangen. Heikhe räkelte sich auf ihrem Fellumhang, der ihr als Schlafstätte gedient hatte. Sie sah zu ihrem noch schlafenden Bruder hinüber, fand aber den Platz Rhoderiks verlassen vor.
Verträumt trat sie aus ihrem Unterschlupf. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie den alten Krieger wenige Schritte, das Schwert in der Hand, vor der Hütte stehen sah.
Zwei in helles Leder gekleidete Männer – einer von ungewöhnlich großer Statur, selbst im Vergleich zu dem an sich schon bärigen Rhoderik – hatten ebenfalls ihre Langschwerter und Dolche in den Händen. Sie versuchten, den Älteren zu umzingeln. Lauernd suchten sie nach einer Gelegenheit, ihn zu überrumpeln. Das Mädchen wunderte sich, keine Angst zu haben. Die bösen Männer schienen ihr fast lächerlich, wie sie ihre Klingen verlagerten, von links nach rechts tänzelten, während Rhoderik einfach nur dastand. Die Spitze der Klinge in seiner Rechten zeigte auf den Boden. Regungslos wartete er ab.
Auch als Heikhe ihn ansprach, ging nicht das leiseste Zucken über seinen zur Kalksäule erstarrten Körper.
»Wirst du sie töten? «, fragte sie keck.
»Geh zu deinem Bruder«, antwortete er.
Doch diese Situation war viel zu interessant, um den Schauplatz zu verlassen. Bisher hatte sie nur langweilige Turnierkämpfe gesehen, bei denen fast nie Blut floss. Nein, sie würde bleiben und lernen. Sie schätzte die Chancen ihres Entführers eher gering ein, waren seine Gegner doch zu zweit und der eine ein Riese. Etwas aber an der Gelassenheit von Rhoderik brachte sie zum Zweifeln.
»Der ist doch ein Kopf größer als du«, kommentierte sie das Vor- und Zurücktrippeln der beiden.
In kaum wahrnehmbarer Langsamkeit bewegte sich die Spitze von Orgflaed nach oben.
»Nicht mehr lange«, gab er über den Rücken an sie zurück.
Die runenverzierte Klinge glitzerte in den frühen Strahlen der Morgensonne. In dem Moment, da sie das reflektierte Licht in das Gesicht des Riesen zu Rhoderiks Rechten warf, sprang der alte Krieger in einer Drehung nach vorne. Mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand der drei anderen Anwesenden zugetraut hätte, führte er einen Streich durch die Deckung des linken Mannes, der ihn diesen von der Schulter bis zur Hüfte in zwei Hälften teilte. In einem Schwall von Blut vollendete er die Drehung und hieb immer noch im gleichen Schwung das Schwert des anderen beiseite, dass es ihn durch den Aufprall zurücktaumeln ließ.
Der Riese sah das Blut seines Freundes im bärtigen Gesicht des Feindes, das ihn grimmig angrinste. Rhoderik wartete wieder, Augenblicke, die sein Feind nutzte, den Schrecken in Wut umzuwandeln.
»Zeit für die andere Seite«, grollte Rhoderik; Heikhe klatschte in die Hände.
Einen Kriegsschrei ausstoßend drang sein Gegner auf ihn ein.
Eine Finte mit dem Schwert sollte die Deckung des Alten öffnen, um den Dolch ins Ziel zu bringen. Doch Rhoderik erkannte das Vorhaben, ignorierte den Stoß und parierte den eigentlichen Angriff am Handgelenk seines Gegners. Wieder spritze Blut und der Dolch fiel samt der Faust, die ihn umklammerte, zu Boden. Rhoderik machte einen Schritt zurück und beantwortete den Angriff mit einem geraden Stoß. Orgflaed grub sich tief in die Magengegend seines Opfers. Er drehte die Klinge und riss sie heraus. Der Riese sank auf die Knie, die unversehrte Hand auf die klaffende Wunde pressend. »Siehst du, Kleine«, wendete er sich dem Mädchen zu, »so fällt