wenn sie wüsste, was ich hier durchmache. Was wir hier durchmachen … Das wird mir nun in vollem Umfang klar und ein riesiges Loch tut sich in meinem Inneren auf. Es verschlingt mich. Ich fühle mich als würde ich jeden Moment zusammenbrechen, die stille Dunkelheit einer Ohnmacht käme mir mehr als gelegen.
Mein Vater. Er würde all seine Kraft daransetzen, meine Mutter zu stützen, für sie da zu sein, stark zu sein, doch er würde es nicht schaffen. Das weiß ich. Und ich liebe ihn dafür. Denn das bedeutet, dass auch er mich nie vergessen könnte. Doch das alles wird nie passieren. Sie werden nie von all dem hier erfahren. Maxi wird mich decken. Maxi wird das alles handeln. Meine beste Freundin wird sie beruhigen können. Zwar habe ich starke Zweifel daran, dass das länger als ein oder zwei Wochen gut gehen wird. Doch daran darf ich jetzt nicht denken. Maxi schafft das schon. Was ich mit alldem meine? Sagen wir einfach mal so: Valentin ist nicht der Einzige, der Geheimnisse hüten und Menschen hintergehen kann.
Es war an dem verhängnisvollen Abend, an dem mein Leben über den Haufen geworfen wurde. Valentin hat mich am Oberarm gepackt und mich erst wieder losgelassen, als wir zu Fuß bis zu meiner Wohnung gelaufen waren. Er hat die Leiche des Mannes einfach liegen gelassen. Auf dem kalten Asphalt in der Dunkelheit der Nacht. Der eiskalte Wind hat sich das letzte bisschen Leben des Mannes gekrallt und es weggeweht. Es würde nie mehr zurückkommen. Wir haben ihn liegen gelassen. Kaum hatte ich einen Schritt über die Schwelle meiner Wohnung gemacht, hatte ich das Gefühl, zusammenbrechen zu müssen und nie wieder aufstehen zu können. Doch das habe ich mir verboten. Und so habe ich den Kopf aufrecht gehalten, zwei Rucksäcke gesucht und alles Essbare hineingeworfen, das ich finden konnte. Außerdem so viel Unterwäsche, Wechselkleidung und Toiletten-Artikel wie darin noch Platz fanden. Valentin kann von Glück sagen, dass ich gerne in Boxershorts schlafe und haufenweise Männer-Sportkleidung besitze. Sonst müsste er jetzt nackt durch den Schnee stapfen. Denn er konnte ja schlecht in die Höhle des Löwen zurückgehen, um sein Hab und Gut zusammenzusuchen. Außerdem halte ich mich selbst immer noch für einen Überlebensgenie, weil ich daran gedacht habe, einen kleinen Kochtopf, ein Feuerzeug, das ich mal von der Studienvertretung geschenkt bekommen habe, und mein altes Taschenmesser mitzunehmen. Ohne würden wir jetzt in der Kälte sitzen und die Instant-Nudeln und Suppenbasis, die ich haufenweise gehortet habe, mit Schnee vermischen und irgendwie kalt runter würgen. So vermischen wir sie zwar immer noch mit Schnee aber immerhin kochen wir das Gemisch dann noch auf und so hat sich die Angst vor Fuchsbandwürmern inzwischen minimiert. Ich laufe zwar schon seit Tagen in einem depressiven, Trance-ähnlichen Schockzustand durch die Gegend, das heißt, die meiste Zeit sitze oder liege ich und heule – das tut jetzt aber nichts zur Sache – aber ein paar kleine Gedanken habe ich doch darauf verwendet, Parasitenbefall zu vermeiden. Mein Leben ist auch so schon scheiße genug. Da brauche ich nicht auch noch Würmer. Das Zelt haben wir in der Ruine der alten Hütte gefunden. Pures Glück. Das habe ich hin und wieder anscheinend auch.
Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich habe Maxi eine Nachricht hinterlassen. »Muss weg. Kann das nicht erklären. Sucht mich nicht. Keine Polizei. Ich muss euch schützen. Erzähl meinen Eltern nichts. Bitte, deck‘ mich. <3 Marlena«
An meiner Grammatik muss ich vielleicht noch etwas feilen, aber Maxi wird das schon verstehen. Und ich weiß, dass sie mir blind vertrauen und den Ernst der Lage gleichzeitig nicht einfach so unterschätzen wird. Eigentlich habe ich eine so tolle Freundin gar nicht verdient.
Ich weiß nicht, wie, aber die Gedanken an Maxi haben meine Tränen getrocknet. Und sie haben mir vor Augen geführt, dass ich das hier packen will. Ich will meine beste Freundin wiedersehen. Und ich will meine Familie wiedersehen. Und ich will, dass wir alle zumindest körperlich unversehrt sind. Ich will Weihnachten verdammt noch mal mit ihnen zu Hause verbringen. Deshalb gibt es für mich nur eines: Kämpfen. Denn ohne Kampf kein Sieg. Und wenn es sein muss, kämpfe ich auch mit schmutzigen Mitteln.
Mit erhobenem Haupt stehe ich auf, strecke mich durch. Langsam schiebe ich eine Hälfte der Zeltplane beiseite. Ich will diesen Moment nicht vergessen. Den Moment, in dem ich mich dazu entschieden habe, niemals aufzugeben und bis zum Schluss zu kämpfen. Ich lasse mich nicht brechen. Von niemandem. Und deshalb blinzle ich auch nicht, als mir die Sonne, die vom Schnee reflektiert wird, direkt in die Augen blendet. Mein gesamter Körper spannt sich an, geht in Angriffshaltung, als ich den ersten Schritt aus diesem verdammten Zelt wage und die weißen Kristalle unter meinem Stiefel knirschen. Lasset den Kampf beginnen.
Kapitel 2 – Marlena
Ich kann es Valentin nicht verübeln, dass er überrumpelt wirkt, als er mich außerhalb des Zeltes antrifft. Das passiert sonst nur, wenn ich bestimmte Dinge verrichten muss, die ich niemandem in freier Wildbahn bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt empfehlen kann. Aber lieber Frostbeulen am Hintern als einen Blasenriss.
Auch kann ich nicht leugnen, dass sich die warmen Sonnenstrahlen unglaublich gut auf meiner Haut anfühlen, und dass sie meine Entscheidung, niemals aufzugeben, nur noch weiter verstärken. Ich tue hier das Richtige. Ich beschütze meine Familie. Ich kämpfe um mein Leben. Und ich werde herausfinden, welcher Teil von Valentin sein Wahres Ich ist. Gleich nachdem ich möglichst viel über diese Sekte, oder was auch immer es ist, dem Valentin angehört, herausgefunden habe. Jede noch so kleine Information kann hilfreich sein. Und jede noch so kleine Hilfe und Hoffnung kann ich bestens in meinem Überlebenskampf gebrauchen.
»Haben Sie sich verirrt?«, er stellt diese Frage mit einem interessierten Ernst in der Stimme, sodass ich kurz stutze. Mir wird bewusst, dass er zum ersten Mal seit Langem davon ausgeht, dass ich ihm auch wirklich antworten werde. In meinem Inneren entzündet sich ein Funke. Klein und schwach, aber doch bemerkbar. Ohne es kontrollieren zu können, schleicht sich ein leichtes, amüsiertes Lächeln auf meine Lippen, während sich eine verräterische Nässe in meinen Augenwinkeln breit macht. Nein! Aus! Genug geheult! Auch wenn das hier Tränen der Rührung wären, verdrücke ich sie mir. Der Mann, der nun direkt vor mir steht und dessen Blick auf meinem Gesicht ruht, ist Valentin. Mein Valentin. Jener Mann, der mich so oft beschützt hat. Der mir schon zur Genüge die Nerven geraubt und mir gleichzeitig unbewusst dabei geholfen hat, nicht von den Schattenmonstern der Vergangenheit bezwungen zu werden. Vor mir steht einfach nur Valentin, in dessen Augen das Eis Risse bekommt. Einzelne Splitter verschwinden und geben einen Blick auf etwas frei, das ich nur mit dem warmen Wasser einer karibischen Lagune vergleichen könnte, und doch ist es so anders, so besonders. Für einen kurzen Moment, vielleicht einen Wimpernschlag, fühle ich nur seine Nähe und kann diese ganze verzwickte und gefährliche Situation, in der wir uns befinden, ausblenden. Viel zu schnell ist dieser Moment der Geborgenheit aber wieder verflogen. Zurück bleibt ein neuer Gedanke: Ich werde nie in meinem Leben vergessen können, was er getan hat. Doch vielleicht – vielleicht – kann ich ihm irgendwann verzeihen, dass er mich hintergangen und vielen Menschen unendliches Leid angetan hat. Und vielleicht wird das genau in dem Moment geschehen, wenn auch er sich selbst vergibt. Vielleicht wird dieser Moment aber auch nie kommen. Fest steht auf jeden Fall, dass wir aus dieser Eishölle niemals lebend rauskommen, wenn ich weiterhin zwischen dem Verschrecktes-Reh- und dem Aggro-Bitch-Modus schwanke.
»Waffenstillstand?« Habe ich gerade noch auf meine Hände gestarrt, die nur wenige Zentimeter von den seinen entfernt sind, so hebe ich nun den Blick und verankere ihn in seinem. Erstaunen und Hoffnung spiegeln sich in seiner Miene wider.
»Waffenbrüder!«, lautet seine etwas zu euphorisch ausgestoßene Antwort auf meine zögerliche Frage.
»Schon mal was von Gleichberechtigung gehört?«, frage ich ihn, weil mir dieser Begriff sauer aufstößt. Was jedoch weniger daran liegt, dass ich mich am Geschlecht störe, sondern eher daran, dass ich niemals von ihm hören möchte, dass er mich wie einen Bruder mag. Mörder oder nicht – Liebe gänzlich abzustellen, ist nicht einfach. Falls man bei mir von Liebe zu ihm sprechen kann. Aber ehrlich gesagt … ich glaube schon.
Ich stoße ruckartig Luft aus, so als hätte sie mir jemand aus den Lungen geboxt.
Valentin mustert mich besorgt, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er während meines gedanklichen Monologs auf meine rhetorische Frage