Magdalena Pauzenberger

Feuerglimmen


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vorbeikommenden Passanten erzählt habe, der daraufhin die Polizei verständigt hat. Ich selbst habe wie gesagt keine Erinnerungen mehr daran. An gar nichts aus meiner Kindheit. Selbst die Gesichter meiner Eltern gingen mir verloren.«

      Nur mit Müh‘ und Not kann ich die aufsteigenden Tränen zurückhalten. Ich bin mir sicher, dass Valentin kein Freund von Mitleid ist. Und doch kann ich nicht anders, als »das ist einfach nur furchtbar« zu hauchen.

      Leicht irritiert zuckt er mit den Schultern. »Ich bin ganz froh, dass ich die Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe. So fehlen sie mir nicht. Mein Vater und meine Mutter meine ich. Ich wurde eben von einer Gemeinschaft und nicht von meinen leiblichen Eltern großgezogen.«

      »Von einer Gemeinschaft aus Mördern«, zische ich, aufgebracht darüber, dass er scheinbar nie die Liebe erfahren hat, mit der jedes Kind aufwachsen sollte. War er je in die Arme genommen worden? War er getröstet worden, wenn er sich verletzt hatte? War er gelobt worden, wenn er eine gute Leistung erbracht hatte? War ihm denn nie gesagt worden, dass er wertvoll ist, so wie er nun mal ist?

      Mein Einwand scheint ihn zu kränken. »Sie sind die einzige Familie, die ich habe … oder wohl eher hatte«, kontert er.

      Dann lass mich deine Familie sein. Mit einem Kopfschütteln verjage ich diesen durch und durch verrückten Gedanken, der sich an die Oberfläche meines Geistes drängt.

      »Ich war von da an also eine Vollwaise«, fährt Valentin ruhig und sachlich fort, ohne auch nur den Funken einer Emotion zu zeigen. »Die ersten paar Wochen habe ich laut Akte in einem Heim verbracht. Diese Zeit existiert aber nicht mehr in meinen Erinnerungen. Es scheint dort nicht besonders schön gewesen zu sein. Offensichtlich war ich damals schon anders als die anderen Kindern. Angeblich wollte ich nie mit ihnen spielen. Nur das dortige Klavier brachte mich zum Lächeln. So wurde das zumindest in der Akte vermerkt. Irgendwann entschied sich ein Ehepaar, mich zu adoptieren. Denen hätte damals eigentlich klar sein müssen, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn sich ein Paar ausgerechnet für den zu groß gewachsenen Sonderling entschied, der kaum sprach. Doch ich glaube, die Heimleiter waren einfach nur froh, mich los zu sein. Kurz darauf stellte sich heraus, dass es sich bei dem Mann und der Frau nicht um ein kinderliebes Ehepaar handelte, sondern um einen der hochrangigen Kämpfer der praediti iuveni und eine Bekannte von ihm. Sie brachten mich zum Obersten, der von da an meine Erziehung übernahm.«

      »Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was diese Menschen unter Erziehung verstehen«, schnaube ich, völlig aufgewühlt von diesen vielen neuen Informationen.

      Das scheint ihn zu treffen. »Ja, klar wurde ich nicht mit Samthandschuhen behandelt. Ich bin nicht auf Jahrmärkte gegangen und habe Zuckerwatte gegessen. Ich bin nie auf eine normale Schule gegangen und ich wurde nie von Freunden eingeladen, denn selbst innerhalb der Gemeinschaft wurde ich gemieden. Ich bin nun mal so abstoßend, wie ich eben bin. Ich wurde von den Gleichaltrigen verachtet, von den etwas Älteren mit niederträchtigen Blicken durchbohrt und für die Ranghöheren war ich anfangs ausschließlich Ungeziefer. Doch ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Ja, ich habe viele Beleidigungen, Schläge und andere Strafen aushalten müssen. Und doch fühlte ich mich nach und nach immer besser. Immer stärker. Immer mehr wert. Und irgendwann war ich des Obersten beste Waffe. Ich weiß, dass ich genug Fehler habe, und dass die Gemeinschaft nicht gerade eine Happy Family ist. Aber ich habe schließlich nie etwas Besseres kennengelernt, also hör auf, mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen!« Fast brüllt er mich an. Mit jedem Wort hat sich eine dicke Ader auf seiner Stirn stärker hervorgetan. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, greift er nach seiner Violine, kehrt mir den Rücken zu und lässt mich alleine im Schnee zurück.

       ***

      

      Kurz weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Kaum ist Valentin aus meinem Blickfeld verschwunden, fühle ich mich wieder verloren. Doch dann fällt mir ein, dass wir Zunder und Holz brauchen, also begebe auch ich mich nach kurzem Zögern in das Dickicht hinein. Es fühlt sich komisch an, all unsere Sachen einfach unbeaufsichtigt liegen zu lassen. Aber sollte uns jemand finden, waren wir so oder so aufgeschmissen, da wäre es dann auch schon egal, wenn jemand einen meiner tollen Kochtöpfe mitgehen lässt.

      Meine Gedanken kreisen um Valentin und um das, was er mir erzählt hat. Es ist zum Haare raufen, personifiziert er für mich auf seltsame Weise sowohl meine Ängste als auch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Manchmal habe ich das Gefühl als gäbe es zwei von seiner Sorte. Den guten und den bösen Zwilling sozusagen. Mal sehe ich so viel Schmerz und Reue in seinen Augen und fühle mich so geliebt und geborgen in seiner Nähe, mal fügt er Menschen Leid zu, folgt blind gewaltsamen und unmenschlichen Befehlen und dann … er hat diese Ansammlung von Verrückten, Kriminellen, die Kinder zu Mördern erziehen, verteidigt. Weil er einer von ihnen ist. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und versuche damit auch diese dunklen Gedanken zu verscheuchen und gleichzeitig die Augen vor der bitteren Wahrheit zu verschließen: Er ist einer von ihnen. Doch er hat mich nicht ausgeliefert. Er hat mich nicht verletzt. Ganz im Gegenteil: Alles was er tut, was er augenscheinlich schon immer getan hat, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ist, mich zu beschützen. Und dafür setzt er sein Leben auf‘s Spiel. Und sagt, dass er dich liebt. Okay, um mich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, bin ich noch nicht stark genug. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass er das alles nicht wegen seiner Gefühle zu mir tut, sondern aus dem einfachen Grund, dass er Reue empfindet. Auch wenn er das augenscheinlich nicht zugeben will. Oder dieses Gefühl ist so neu für ihn, dass er es nicht zu deuten weiß.

      Gedankenverloren bücke ich mich nach trocken aussehenden Ästen, reiße Moos von Baumrinden und laufe in fremde Menschen hinein. Warte was?!

      Kapitel 3 – Valentin

      Ich habe gedacht, ich würde durchdrehen, als sie mich nur noch ignoriert und mit ihrem Schweigen bestraft hat. Dann hat sie endlich meinen Wunsch erhört, hat wieder mit mir geredet, mich wieder angesehen. Und doch wünsche ich mir gerade einfach nur, ihren Blicken ausweichen zu können. Da war es mir ja noch lieber, als sie mich einfach nicht leiden konnte. Böse Blicke lassen mich kalt. Doch als sie mich so voller Abscheu angesehen hat, hat das etwas in mir hervorgerufen. Eines dieser komischen Gefühle, die ich immer noch nicht so richtig zuordnen kann, obwohl sie doch schon seit einer Weile immer wieder an die Oberfläche kommen. Doch der Moment, in dem mir aus ihren Augen nichts als Angst – Angst vor mir! – entgegenschlug, hat die Eisdecke meines Herzens zersplittern lassen. Nur ein klein wenig, doch es genügte, dass mich der Schwall aus Gefühlen fast überwältigt hätte. Der Drang, sie zu beschützen, war beinahe übermächtig geworden, ich wollte sie einfach nur im Arm halten, sie beruhigen, doch dann wurde mir klar, dass es genau das war, womit ich ihr in diesem Moment am meisten weh getan hätte. Und da spürte ich, wie sich ein Eiszapfen durch mein Innerstes bohrte und mich erschaudern ließ. Mir wurde bewusst, dass ich sie nicht einfach zurücklassen konnte. Dass ich meine Familie verraten musste. Dass ich das Leben, das ich nun schon seit zwanzig Jahren führe, aufgeben musste. Dass ich alles zurücklassen musste. Für eine junge Frau, die sich in diesem Moment wahrscheinlich so weit wie möglich von mir weggewünscht hat. Und ich habe es getan. Ich habe ihr meine Hand gereicht, ihr diese Chance auf Flucht – eine Flucht isoliert von der Außenwelt, eine Flucht mit mir alleine – angeboten, und sie ist mit mir gekommen. Ohne dass ich es wollte und ohne dass ich es kontrollieren konnte, hat mein Herz zu rasen begonnen und ich habe vergessen, in was für einer brenzligen Situation wir uns befanden, hatte lediglich Augen für sie und freute mich darüber, sie ganz für mich alleine zu haben. Und am meisten freute ich mich über ihr Vertrauen zu mir. Wahrscheinlich wusste ich es schon damals und wollte es einfach nicht wahrhaben, doch wenig später wurde es mir völlig klar: Ich war lediglich das kleinere Übel. Die Chance, nicht sofort auf irgendeiner verlassenen Straße abgemurkst zu werden. Genauso schnell, wie die Gefühle gekommen waren, habe ich sie auch schon wieder unter einer dicken Decke Schnee und Eis begraben. Wenn wir eines zum Überleben brauchen, dann einen klaren Verstand und den puren, unumstößlichen Willen zu überleben. Natürlich hat es weh getan, von ihr