zwei Grundsäulen: Die eine Säule begründet die unternehmerische Verhaltenskontrolle in Form des Kartellverbots2 und des Verbots missbräuchlichen Verhaltens für Unternehmen mit Marktmacht,3 die andere Säule umfasst die Strukturkontrolle für die Übernahme von Unternehmen oder Vermögenswerten in Form der Fusionskontrolle.4
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Der Fokus von kartellrechtlichen Compliance-Maßnahmen liegt regelmäßig auf der ersten Säule, also der kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle. Hier sind die risikorelevanten Sachverhalte des Unternehmensalltags angesiedelt, also Vorgänge, bei denen Unternehmensmitarbeiter das Unternehmen täglich in kartellrechtliche Gefahren bringen können. Transaktionen sind dagegen weit weniger alltäglich und werden im Unternehmen regelmäßig von Anfang an rechtlich begleitet. Die mit einem Transaktionsprozess verbundenen kartellrechtlichen Risiken erfahren damit naturgemäß eine höhere rechtliche Aufmerksamkeit. Auch wenn Compliance-Schulungen in diesem Bereich nicht zu vernachlässigen sind, betreffen sie regelmäßig einen eher kleinen Mitarbeiterkreis, der vor allem dahingehend sensibilisiert werden muss, rechtzeitig an das Kartellrecht und die Einbeziehung kartellrechtlicher Expertise zu denken.
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Die Regeln zur kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle sind direkt im Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und damit im sog. Primärrecht der Europäischen Union (EU) angesiedelt. Die Europäische Fusionskontrolle findet sich nicht direkt im AEUV, sondern in einer eigenen Verordnung.5 Europäisches Kartellrecht ist unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten der EU und gilt – über entsprechende Abkommen6 – auch in den EFTA-Staaten Island, Norwegen und Liechtenstein und damit im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Oberste Europäische Kartellbehörde ist die Europäische Kommission (Kommission), die mit der Generaldirektion Wettbewerb über eine Einheit von etwa 800 Mitarbeitern verfügt, die sich mit der Durchsetzung des Kartellrechts befasst. In der EU verfügt zudem jeder Mitgliedstaat über eine eigene nationale Kartellrechtsordnung, die weitgehend an die Kartellrechtsordnung der EU angepasst ist. Das deutsche Kartellrecht ist im seit 1957 geltenden Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verankert. Die deutsche Verfolgungsbehörde ist das Bundeskartellamt mit Sitz in Bonn, mit derzeit ca. 360 Mitarbeitern. Obgleich die Behörde formal dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellt ist, agiert sie unabhängig und nicht weisungsgebunden.
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Derzeit haben weltweit über 120 Länder eigene Regeln zur Durchsetzung des Kartellrechts. Auch wenn es viele Prinzipien gibt, die in allen Rechtsordnungen enthalten sind, weicht die konkrete Ausgestaltung der Kartellrechtsgesetze sowie deren Umsetzung in einigen Punkten signifikant voneinander ab. Die Ausführungen in diesem Buch befassen sich allein mit europäischem und deutschem Kartellrecht, sofern nicht ausdrücklich auf eine andere Rechtsordnung Bezug genommen ist.
1 BKartA, Informationsbroschüre „Offene Märkte – Fairer Wettbewerb“, S. 10. 2 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 95. 3 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 202. 4 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 288. 5 EG-Fusionskontrollverordnung VO Nr. 139/2004, ABl. EU 2004 L 24/1. 6 Art. 53, 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. EG 1994 L 1/3.
II. Anwendbarkeit von Kartellrecht
1. Auswirkungsprinzip
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Die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bestimmt sich nach dem Auswirkungsprinzip. Dies gilt im Übrigen für die meisten Kartellrechtsordnungen weltweit und bedeutet: Weist eine Vereinbarung oder Verhaltensweise ein Potenzial zur spürbaren Wettbewerbsbeschränkung in der EU/in Deutschland auf, ist das europäische bzw. deutsche Kartellrecht anwendbar. Dies gilt unabhängig vom Willen der Vertragsparteien oder der von diesen getroffenen Rechtswahl. Irrelevant ist ebenfalls, ob ein oder alle an einer beschränkenden Vereinbarung oder einer kartellrechtswidrigen einseitigen Verhaltensweise beteiligten Unternehmen ihren Sitz in Deutschland oder der EU haben, sofern ihr Verhalten den deutschen bzw. den europäischen Markt betrifft. Umgekehrt bedeutet dies auch: Wettbewerbsbeschränkungen, die kein Potenzial haben, sich auf den Wettbewerb in der EU auszuwirken, fallen nicht in den Anwendungsbereich dieser Kartellrechtsordnung, ggf. aber unter die Kartellrechtsregeln eines anderen Landes. Abgrenzungshilfen für die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bieten die entsprechenden Leitlinien der Behörden.7
2. Verhältnis zwischen europäischem und deutschem und sonstigem nationalen Kartellrecht innerhalb der EU
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Deutsches und europäisches Kartellrecht sind grundsätzlich nebeneinander anwendbar, wobei die Anwendung europäischen Kartellrechts im Konfliktfall vorgeht.8
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Hat eine Verhaltensweise rein lokale Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat der EU, fällt sie mangels Spürbarkeit der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels ggf. nicht unter europäisches, sondern allein unter das nationale Kartellrecht des jeweiligen Mitgliedstaats, bei Auswirkungen in Deutschland also allein in den Zuständigkeitsbereich des Bundeskartellamtes. Die praktischen Auswirkungen sind jedoch vergleichsweise gering: Im Bereich der zweiseitigen Verhaltenskontrolle sind die Kartellrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voll an das EU-Kartellrecht angepasst. Im Bereich der einseitigen Missbrauchskontrolle können die Beurteilungsmaßstäbe nur strenger, nicht dagegen milder ausfallen. Das deutsche Kartellgesetz macht von der Möglichkeit einer strengeren einseitigen Verhaltenskontrolle Gebrauch.9
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Europäisches Kartellrecht ist auf der Ebene der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares Recht.10 Dies gilt auch für alle von der Kommission erlassenen Verordnungen, etwa zur Fusionskontrolle, und insbesondere für die sog. Gruppenfreistellungsverordnungen (siehe dazu unter Rn. B 104ff.). Die zur Erläuterung dieser Verordnungen ebenfalls von der Kommission erlassenen Leitlinien und Merkblätter haben dagegen nur für die Kommission selbst unmittelbare rechtliche Bindungswirkung, sofern sie nicht unmittelbar den Verordnungstext erläutern (siehe dazu unter Rn. B 110).
3. Kartellrechtsordnungen anderer Länder außerhalb des EWR
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Obgleich sich in allen Kartellrechtsordnungen weltweit gewisse gemeinsame Grundkonzepte wiederfinden, weichen die nationalen Kartellrechtsregeln, einschließlich deren Umsetzungen durch nationale Kartellbehörden und Gerichte, durchaus substanziell voneinander ab.
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Für ein international agierendes Unternehmen bedeutet dies, dass Compliance-Bemühungen alle Absatzmärkte eines Unternehmens im Blick haben müssen. Wie z.B. Bußgeldentscheidungen der chinesischen Kartellbehörde in Höhe von EUR 56 Mio. im sog. LCD-Bildröhrenkartell im Januar 2013,11 der südkoreanischen Kartellbehörde in Höhe von USD 854 Mio. gegen den Chiphersteller Qualcomm im Jahr 201612 oder ein Bußgeld der japanischen Kartellbehörde in Höhe von USD 330 Mio. gegen verschiedene Bauunternehmen im Juli 201913 zeigen, lässt sich die Kartellrechtsverfolgung nicht einem Land oder einer bestimmten Form der Marktwirtschaft zuordnen. So hat Indien seine zunächst nur in der Theorie existente Kartellrechtsordnung schon vor Jahren „scharf gestellt“. Auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist Brasilien bei Kartellrechtlern schon seit Langem als ein Land bekannt, in dem die Kartellrechtsverfolgung einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Das Gleiche gilt auf dem afrikanischen Kontinent für Südafrika.14