Jörg-Martin Schultze

Compliance-Handbuch Kartellrecht


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      Kartellrechtliche Compliance kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, wenn sie Unternehmensmitarbeiter erreichen soll. So verlockend „one-sizefits-all“-Angebote, insbesondere im sog. e-Learning, klingen: sie können eine individuelle Compliance-Arbeit, zugeschnitten auf das konkrete Unternehmen nicht ersetzen, sondern allenfalls abrunden. Kartellrechtsregeln und Kartellrechtsrisiken sind immer mit der konkreten Markt- und Wettbewerbssituation eines Unternehmens verbunden und dazu in Bezug zu setzen. Dabei ist evident, dass sich z.B. die kartellrechtlichen Risikobereiche eines internationalen Herstellers von Spezialprodukten mit marktbeherrschender Stellung von denen eines regionalen Händlers homogener Massengüter unterscheiden. Dies gilt, obwohl beide Unternehmen den gleichen Regeln und Verboten unterliegen. In der Praxis wird dem spezifischen Unternehmensumfeld häufig nicht ausreichend Beachtung geschenkt, sodass Schulungsmaßnahmen oder Verhaltensrichtlinien über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg gehen. Egal, welcher Mittel Sie sich jedoch letztlich bedienen werden, um in einem Unternehmen für eine wirkungsvolle Einhaltung kartellrechtlicher Regeln zu sorgen: Sie holen die Unternehmensmitarbeiter nur ab, wenn Sie deren Alltagsprobleme adressieren.

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      Auch wenn es sich trivial anhören mag: Vor Beginn jeglicher Compliance-Maßnahmen im Kartellrecht müssen folglich mindestens die folgenden Basis-Fragen stets geklärt sein:

       Checkliste: Vor Beginn von Compliance-Maßnahmen

       ✓ Auf welchen Märkten ist das Unternehmen aktiv?

       ✓ Wer sind die Wettbewerber auf diesen Märkten?

       ✓ Hat es in der letzten Zeit Marktzutritte gegeben bzw. gibt es weitere Unternehmen, die dem Markt in kurzer Zeit beitreten könnten?

       ✓ Was sind die wichtigsten Absatzgebiete des Unternehmens?

       ✓ Wer sind die wichtigsten Kunden des Unternehmens?

       ✓ Welcher Vertriebsstrukturen bedient sich das Unternehmen für den Absatz der Produkte bzw. Dienstleistungen?

       ✓ Über welche Marktstellung verfügt das Unternehmen auf den jeweiligen Märkten?

       ✓ Gibt es absehbare Umstände, die die Marktverhältnisse künftig beeinflussen oder verändern werden?

      15 Wiedemann, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl. 2020, § 2 Rn. 3 m.w.N. 16 So zuletzt EuGH, Urt. v. 2.4.2020, Rs. C-228/18 (Budapest Bank u.a.). 17 Schlussanträge Generalanwalt Bobek v. 9.5.2019, Rs. C-28/18, Rn. 51 (Budapest Bank u.a.). 18 Siehe dazu ausführlicher unter Rn. B 112. 19 Siehe dazu ausführlicher unter Rn. B 108ff. 20 Ständige Rspr., siehe z.B. EuGH, Urt. v. 23.4.1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21 (Hofner und Elsar); EuGH, Urt. v. 17.2.1993, Rs. C-159/91 und C-190/91, Slg. 1993, I-637, Rn. 19 (Poucet und Pistre). 21 Bechtold/Bosch, GWB, 9. Aufl. 2018, § 1 Rn. 7ff. m.w.N.; Wiedemann in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl. 2020, § 4 Rn. 1f. 22 Der Begriff der „Wurstlücke“ ist im Zusammenhang mit einem Kartellverfahren in der Fleischbranche entstanden: Dem Unternehmer Tönnies ist es 2016 gelungen, eine damals im GWB noch vorhandene Gesetzeslücke durch Umstrukturierungen im Konzern so zu nutzen, dass ein gegen zwei Konzernunternehmen vom Bundeskartellamt in Höhe von EUR 128 Mio. verhängtes Bußgeld schließlich hinfällig wurde, BKartA, Pressemitteilung v. 19.10.2016. 23 Siehe Jungbluth, NZKart 2017, 257f.; kritisch Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264ff. 24 Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264, 266. 25 Bekanntmachung der Kommission v. 9.12.1997 über die Definition des relevanten Marktes, ABl. EG 1997 C 372/5, Rn. 7; Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1/EU, 6. Aufl. 2019, Art. 102 Abs. 1 Rn. 48ff. 26 Siehe auch Bulst, in: Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht, Bd. 2, 13. Aufl. 2018, Art. 102 Rn. 39ff. 27 Bekanntmachung der Kommission v. 9.12.1997 über die Definition des relevanten Marktes, ABl. EG 1997 C 372/5, Rn. 8, 28ff.; Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1/EU, 6. Aufl. 2019, Art. 102 Abs. 1 Rn. 65f. 28 Art. 1 Abs. 1 lit. c VO (EU) Nr. 330/2010, ABl. EU 2010 L 102/1 (Vertikal-GVO); Art. 1 Abs. 1 lit. t VO (EU) Nr. 1217/2010, ABl. EU 2010 L 335/36 (F&E-GVO); Art. 1 Abs. 1 lit. j (ii) VO (EU) 772/2004, ABl. EU 2004 L 123/11 (TT-GVO). 29 Eine Ausnahme besteht insoweit nur für die deutschen Tatbestände des Boykotts, der Nachteilsandrohung und der unrichtigen Angaben gegenüber Kartellbehörden im Sinne des § 81 Abs. 3 OWiG. Diese Tatbestände können gemäß § 10 OWiG nur vorsätzlich begangen werden. Dies gilt im Übrigen auch für Submissionsabsprachen gemäß § 298 StGB, siehe dazu auch unter Rn. B 70, 80, 146ff. 30 Für das EU-Kartellrecht ergibt sich dies aus den Verwaltungsgrundsätzen der Kommission: Nach Rn. 29 zweiter Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien (siehe Fn. B 33) ist der Nachweis von (lediglich) Fahrlässigkeit ein mildernder Umstand bei der Bußgeldbemessung. Für das deutsche Kartellrecht folgt dies aus § 17 Abs. 2, § 30 Abs. 2 OWiG, wonach sich bei fahrlässiger Begehung der Bußgeldrahmen halbiert. 31 Für das EU-Kartellrecht Art. 25 Abs. 1 lit. b sowie Art. 25 Abs. 2–6 VO 1/2003 für Fristbeginn und Unterbrechung; für das deutsche Kartellrecht § 81 Abs. 8, 9 GWB, für Fristbeginn sowie für das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung gelten die allgemeinen Regeln des OWiG.

       IV. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen das Kartellrecht

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       1. Bußgelder

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      Aus Unternehmenssicht stehen die drastischen Bußgelder für Kartellrechtsverstöße bei der Risikoabwägung und der daran anknüpfenden Compliance-Arbeit im Unternehmen an erster Stelle. Die Bedeutung kartellrechtlicher Compliance besteht deshalb zu einem zentralen Teil darin, dieses Bußgeldrisiko für künftiges Verhalten des Unternehmens auszuschalten und für vergangenes zu identifizieren.

       1.1 Europäische Kommission

      „Heute haben wir mit der Verhängung von Rekordgeldbußen wegen eines schweren Kartellverstoßes ein Ausrufezeichen gesetzt. [...] Unsere Botschaft ist klar: Kartelle haben in Europa keinen Platz.“

      Magrethe Vestager, am 19.7.2016 anlässlich der Verhängung erster Bußgelder in dem mit insgesamt nahezu EUR 4 Mrd. bebußten LKW-Kartell.

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      Nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO 1/2003 kann ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß gegen Art. 101 AEUV sowie Art. 102 AEUV von der Kommission mit Bußgeldern von bis zu 10 % des weltweiten Konzernumsatzes der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen belegt werden. Gleiches gilt, wenn ein Unternehmen einer einstweiligen