Sibylle Hofer

Leitfaden der Rechtsgeschichte


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      Als Alternative zur Fehde konnte das Opfer einer Straftat mit dem Täter einen Vergleich abschließen. Dabei wurde vereinbart, dass der Täter eine bestimmte Geldsumme zu zahlen hatte. Im Gegenzug verzichtete das Opfer auf Rachemaßnahmen.

      Edictum Rothari (Edikt des langobardischen Königs Rothar, 643), Ziff. 143: Si homo occisus fuerit liber aut servus et pro humicidio ipso conpositio facta fuerit et pro ampotandam inimicitia sacramenta prestita (…).

      Ein freier oder unfreier Mensch war erschlagen worden, und wegen dieses Totschlags wurde eine Ausgleichszahlung vereinbart, und um jedwede Feindschaft auszuschließen, wurde die Vereinbarung beschworen (…).

      80. Bußkataloge in den Leges

      Derartige Vereinbarungen lagen im Interesse der Gemeinschaft, da damit Gewalttätigkeiten und somit Unfriede vermieden wurden. Die Herrscher der germanischen Völkerschaften waren zwar nicht in der Lage, solche Vereinbarungen zu erzwingen. Es lässt sich jedoch beobachten, dass sie versuchten, Anreize für eine derartige Konfliktbeilegung zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sind die Regelungen in den Leges zu sehen, die für zahlreiche Rechtsverletzungen bestimmte Zahlungsverpflichtungen benannten. Ein beliebiges Beispiel:

      Pactus Alamannorum (Vertrag der Alemannen, Anfang 7. Jh.), Ziff. XI:

      1) Si quis alteri pedem truncaverit, solvat solidos XL.

      4) Si quis alteri articulum policem truncaverit, solvat solidos VI.

      8) Si alius articulus trunccatus fuerit, solvat solidos III.

      1) Wenn jemand einem anderen einen Fuß abhackt, zahle er 40 Schillinge.

      4) Wenn jemand einem anderen die große Zehe abhaut, zahle er 6 Schillinge.

      8) Wenn eine andere Zehe abgehauen wird, zahle man 3 Schillinge.

      Solche Regelungen stellten klar, welchen Betrag das Opfer vom Täter dafür verlangen konnte, dass es auf sein Racherecht verzichtete. Dadurch wurde Streitigkeiten über die Frage vorgebeugt, welches die angemessene Summe für eine konkrete Verletzung sei. Die Fixierung der Beträge erhöhte somit die Chance, dass zwischen Täter und Opfer eine Vereinbarung geschlossen und keine Rache geübt wurde. Aus dieser Zielsetzung erklärt sich auch der Umstand, dass die Regelungen äußerst detailliert waren. Sie sollten möglichst viele Verletzungshandlungen erfassen. Die vorgeschlagenen Beträge entsprachen weitgehend den Zahlungen, die üblicherweise für das entsprechende Delikt ausgehandelt wurden. Bei der Berechnung fanden unter anderem die Bedeutung des verletzten Rechtsguts sowie die gesellschaftliche Stellung des Opfers Berücksichtigung.

      Wurde eine hochstehende Person verletzt, war ein höherer Betrag vorgesehen, als wenn dieselbe Verletzung einer unfreien Person zugefügt wurde. Die Kataloge sind somit auch ein Abbild der damaligen Gesellschaftsstruktur. Manche Leges sahen denn auch als Ausgleichszahlung nicht fixe Beträge, sondern eine Quote des sog. Wergelds (von lat. „vir“: Mann) vor. Damit bildete der gesellschaftliche Wert des Opfers den Maßstab für die Bestimmung der Zahlungshöhe. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass dieser Wert in Geld bestimmbar sei.

      Die Tatumstände fanden in den Katalogen dagegen meist keine Berücksichtigung. Bei den Regelungen wurde auf den Erfolg einer Tat abgestellt. Nur selten waren geringere Summen für die Situation vorgesehen, dass es durch Zufall zu einer Rechtsverletzung gekommen war.

      Der Akt der Rechtsaufzeichnung wurde jedoch teilweise auch dazu verwendet, um die bisher üblichen Beträge zu erhöhen. Die Veränderungen sollten Vergleichsvereinbarungen für die Opfer attraktiv machen und somit dazu beitragen, Fehdehandlungen und damit den Unfrieden in der Gemeinschaft einzuschränken:

      Edictum Rothari (Edikt des langobardischen Königs Rothar, 643), Ziff. 74: In omnis istas plagas aut feritas superius scriptas, quae inter hominis liberos evenerint, ideo maiorem conpositionem posuimus, quam antiqui nostri, ut faida (quod est inimicitia) post accepta suprascripta conpositione postponatur et amplius non requiratur (…).

      Bei all den vorerwähnten Hieb- und Stichwunden haben Wir, falls sie unter Freien sich ereignen, deshalb höhere Bußen angesetzt als unsere Vorfahren, damit die Fehde (d. h. Feindschaft) nach Empfang der vorerwähnten Buße aufgegeben und nicht mehr geltend gemacht werde (…).

      Dass die in den Leges vorgeschlagenen Summen tatsächlich hoch waren, belegen Texte, in denen zum Vergleich Sachwerte genannt wurden (danach entsprachen zwei Schillinge beispielsweise dem Wert eines Ochsen; somit hatte die im alemannischen Recht für einen Fußverlust vorgesehene Zahlung von 40 Schillingen einen Gegenwert von 20 Ochsen). Infolgedessen war der Abschluss eines Vergleichs für das Opfer finanziell attraktiv. Allerdings bestand damit auch die Gefahr, dass der Täter nicht in der Lage war, die Gegenleistung zu erbringen. Außerdem widersprach ein Racheverzicht, insbesondere bei Tötungen, damaligen Ehrvorstellungen. Es ist daher davon auszugehen, dass trotz aller Anreize häufig keine Vereinbarung zwischen Täter und Opfer abgeschlossen wurde. Außerdem ist bekannt, dass selbst dann, wenn es zu einer Vereinbarung gekommen war, diese nicht selten später seitens des Opfers gebrochen und trotzdem Fehde geübt wurde.

      Begriffliches: In den Stammesrechten wird für den Betrag, welchen der Täter zu zahlen hatte, häufig das lateinische Wort „compositio“ (bzw. conpositio: Ausgleichung) verwendet. Infolgedessen spricht man auch vom Kompositionensystem. Die umfangreichen Regelungen in den Leges zu dieser Thematik werden auch als Bußkataloge bezeichnet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den „Bußen“ nicht um Geldstrafen im heutigen Sinn handelt. Die Zahlungen wurden nicht von Gerichten festgelegt, sondern zwischen Täter und Opfer vereinbart. Außerdem floss das Geld nicht in öffentliche Kassen, sondern an das Opfer.

      81. Leib-, Lebens- und Geldstrafen

      Für einzelne Handlungen sahen die Stammesrechte den Tod bzw. die Verstümmelung des Täters vor oder verpflichteten diesen zur Zahlung einer Geldsumme an die königliche Kasse.

      Lex Burgundionum (Gesetz der Burgunder, 6. Jh.) Ziff. 4, 1:

      Quicumque mancipium alienum sollicitaverit, caballum quoque, equam, bovem aut vaccam (…) furto auferre praesumpserit, occidatur.

      Ein Freier (…), der einen fremden Knecht entführt, sowie ein Freier, der ein Pferd, eine Stute, ein Rind oder eine Kuh stiehlt, wird getötet.

      Androhungen von Leib-, Lebens- oder Geldstrafen finden sich in den Leges vor allem bei Angriffen auf den Herrscher bzw. die Gemeinschaft, bei besonders schwerwiegenden Taten (wie etwa im zitierten Beispiel bei der Entziehung von Personen oder Gegenständen, denen in einer Agrargesellschaft ein hoher Wert zukam) sowie bei Delikten von unfreien Personen.

      82. Gerichtsverfahren

      Die Leib-, Lebens- und Geldstrafen wurden von Gerichten verhängt. Infolge der zunehmend hoheitlichen Ordnung des Gerichtswesens (s. Rn. 76) können sie daher im Unterschied zu den privaten Reaktionen als hoheitliche Strafen bezeichnet werden. Allerdings kam es bei Verletzungen, für die in den Leges eine derartige Bestrafung vorgesehen war, keinesfalls immer zu einem Gerichtsverfahren. Nicht selten nahmen auch bei derartigen Delikten die Opfer selbst die Verfolgung in die Hand.

      Bei gerichtlichen Verfahren, in denen es um die Verhängung einer Leib-, Lebens- oder Geldstrafe ging, fand eine amtliche Ermittlung statt. Dabei konnte auch die Folter eingesetzt werden. Jedoch handelte es sich nicht immer, wenn ein Gericht tätig wurde, um einen derartigen Kriminalprozess. Es gab daneben auch gerichtliche Verfahren, die dazu dienen sollten, eine Täter-Opfer-Vereinbarung (s. Rn. 79) vorzubereiten. Dabei beschränkte sich die Kompetenz des Gerichts darauf, einen Ausgleich vorzuschlagen. Ob eine entsprechende Vereinbarung geschlossen wurde, hing von Opfer und Täter ab. Das Gericht hatte keine Macht, die Übernahme seines Vorschlags zu erzwingen.