das Ermessen jedenfalls nicht nachbarlichen Interessen[894]. Allerdings führt die Möglichkeit der Bauaufsichtsbehörde, Bauanträge wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses abzulehnen, in der Tat dazu, dass es letztlich in ihrer Hand liegt, ob sich der Nachbar oder der Bauherr im späteren Rechtsschutzverfahren in der Angreiferrolle wiederfindet[895].
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Bei der Entscheidung über den Antrag auf behördliches Einschreiten stellt sich analog zur Verfahrens- bzw. Genehmigungsfreistellung schließlich auch beim vereinfachten Genehmigungsverfahren die Frage, ob bei einem Anspruch auf Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde das behördliche Ermessen aus kompensatorischen Gründen reduziert ist[896]. Dies wird mit den oben dargelegten Argumenten zu bejahen sein[897]. Insgesamt zeigt sich, dass die im Zuge der Deregulierung eingeschränkten Prüfprogramme den Rechtsschutz des Nachbarn nicht unwesentlich verkompliziert und damit letztlich weniger bürgerfreundlich gemacht haben[898].
4. Vorläufiger Rechtsschutz des Nachbarn
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Gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Laut § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO gilt dies auch für Verwaltungsakte mit Doppelwirkung. Bliebe es bei diesen Regeln, bräuchte ein Nachbar lediglich Widerspruch bzw. Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung einzulegen, um den Bauherrn vorerst am Bauen zu hindern. § 212a Abs. 1 BauGB sieht indes gerade für die dargestellte Konstellation eine Ausnahme vor; dieser Regelung zufolge entfällt nämlich die aufschiebende Wirkung der genannten Rechtsbehelfe[899]. Möchte der Nachbar also verhindern, dass der Bauherr sein Bauwerk im Laufe des Hauptsacheverfahrens bereits errichtet und damit vollendete Tatsachen schafft, ist er auf den vorläufigen Rechtsschutz angewiesen.
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Bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung wie der Baugenehmigung richtet sich der Eilrechtsschutz nach § 80a VwGO. Danach hat der Nachbar theoretisch drei Möglichkeiten, um die von ihm begehrte aufschiebende Wirkung seiner Rechtsmittel zu erreichen: Er kann erstens gem. § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO bei der Ausgangsbehörde die Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung sowie den Erlass einstweiliger Maßnahmen zur Sicherung seiner Rechte beantragen[900]. Wie sich aus dem Verweis von § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO auf § 80 Abs. 4 VwGO ergibt, kann der Nachbar zweitens das Gleiche für die Dauer des Widerspruchsverfahrens auch bei der Widerspruchsbehörde tun[901]. Vor allem aber kann er nach § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 VwGO bei Gericht die Aussetzung der sofortigen Vollziehung beantragen[902]. In der Praxis hat allein der gerichtliche vorläufige Rechtsschutz Bedeutung[903]. Dabei kann sich der antragstellende Nachbar gleich an das Gericht wenden, ohne zuvor bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 VwGO einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt zu haben[904]. Voraussetzung für die Aussetzungsentscheidung ist nach § 80a Abs. 1 VwGO, dass bereits ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, der bei positiver Entscheidung aufschiebende Wirkung entfalten kann[905].
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Missachtet der Bauherr in der Folge eine auf diesem Wege erlassene gerichtliche Aussetzung der sofortigen Vollziehung und beginnt mit dem Bau bzw. setzt die Bauarbeiten fort, kann der Nachbar in entsprechender Anwendung des § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO bei Gericht beantragen, die aufschiebende Wirkung festzustellen und gegebenenfalls Sicherheitsmaßnahmen zu erlassen[906]. Als Sicherungsmaßnahmen gegen eine solche faktische Vollziehung der Baugenehmigung kommen vor allem eine Baueinstellung oder eine Nutzungsuntersagung in Betracht[907]. Ein auf § 123 VwGO gestützter Antrag auf Erlass derartiger Sicherungsmaßnahmen ist hingegen nicht zulässig[908]; er kann allerdings in einen Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO umgedeutet werden[909]. Auf der Ebene der Begründetheit ist dann allein Gegenstand der Prüfung, ob eine aufschiebende Wirkung tatsächlich missachtet wird[910].
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Die Maßstabsbildung für die Begründetheit des Antrags auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung ist dem § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO (analog) zu entnehmen, auf den § 80a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 VwGO verweist[911]. Danach soll die Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen[912]. Ob dies der Fall ist, richtet sich maßgeblich nach den Erfolgsaussichten der Hauptsache. Hierfür nimmt das Gericht eine summarische Prüfung vor[913]. Nur wenn die Erfolgsaussichten offen sind (non liquet), kommt es zu einer Interessenabwägung[914]: Für den Bauherrn und damit das Vollzugsinteresse mag die gesetzliche Wertung in § 212a BauGB sprechen[915]. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Errichtung eines Bauwerks vollendete Tatsachen schaffen würde, die bei Erfolg in der Hauptsache kaum mehr rückgängig gemacht werden könnten[916]. Diese Überlegung führt in der Praxis regelmäßig dazu, dem Suspensivinteresse des Nachbarn den Vorrang einzuräumen[917].
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Die Deregulierung hat freilich auch Auswirkungen auf den vorläufigen Rechtsschutz. Denn ist eine bauliche Anlage nicht (mehr) genehmigungspflichtig, muss der Nachbar – wie zuvor schon beim Schwarzbau oder bei Überschreiten der Baugenehmigung durch den Bauherrn – ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde beantragen. In der Hauptsache sind Verpflichtungswiderspruch und -klage statthaft, der vorläufige Rechtsschutz richtet sich nach § 123 VwGO. Dabei ist für den Nachbarn der einstweilige Rechtsschutz nicht zuletzt deshalb zentral, weil eine im Hauptsacheverfahren begehrte (Abriss-)Verfügung der Bauaufsichtsbehörde mit der Zeit immer unwahrscheinlicher wird, da die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme mit Fortschreiten der Bauarbeiten absinkt[918]. Der Nachbar ist also gehalten, möglichst frühzeitig zu reagieren.
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Allerdings können in dieser Konstellation für den Nachbarn einige Hindernisse bei der Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes ausgemacht werden. Zum einen spielt das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache eine wichtige Rolle[919]. So kann eine Abrissverfügung – zu Recht – grundsätzlich nicht im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes erreicht werden[920]; vielmehr ist an eine Baueinstellung zu denken[921]. Zum anderen besteht auch hier – ebenso wie im Hauptsacheverfahren – Streit darüber, ob jede Verletzung einer nachbarschützenden Norm das behördliche Ermessen beim Eingreifen schrumpfen lässt. Dies wird überwiegend bejaht, um den Nachbarn wieder so zu stellen, wie wenn es eine Baugenehmigung gäbe, und den Wegfall des für ihn günstigeren Verfahrens nach §§ 80, 80a VwGO zu kompensieren[922]. Diskutiert wird zudem, ob die Anforderungen an die Glaubhaftmachung (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) abgesenkt werden sollten, um eine weitere Angleichung der Anforderungen der Rechtsbehelfe nach §§ 80, 80a VwGO auf der einen und nach § 123 VwGO auf der anderen Seite zu erreichen[923]. Schließlich wirkt sich die Problematik des gespaltenen Rechtsschutzes auch im vorläufigen Rechtsschutz aus[924], so dass – gerade im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren – bisweilen ein Antrag nach § 80a Abs. 3 VwGO mit einem Antrag nach § 123 VwGO kombiniert werden muss.
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Freilich birgt auch für den Bauherrn der vom Nachbarn angestrengte vorläufige Rechtsschutz Risiken. Hingewiesen sei nur auf das Schadensrisiko des Bauherrn, das dieser etwa nach einer Baueinstellung, die über § 123 VwGO erwirkt wurde, tragen muss. Denn während im Zivilprozess in einer zweipoligen Konstellation demjenigen, der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren unterlegen war, nun aber in der Hauptsache obsiegt, ein Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO zusteht, geht der Bauherr im Verwaltungsprozess in der hier dreipoligen Situation leer aus[925]. Zwar findet § 945 ZPO über § 123 Abs. 3 VwGO durchaus Anwendung. Allerdings ist im Nachbarrechtsstreit der Bauherr nicht Gegner, sondern lediglich als Beigeladener beteiligt (§§ 63 Nr. 3, 65 VwGO). Gegner bleibt grundsätzlich der Rechtsträger der Bauaufsichtsbehörde[926]. Vereinzelt wird für die Freistellungsverfahren eine analoge Anwendung des § 945 ZPO befürwortet, da mit dem Wegfall der präventiven Prüfung gerade eine Entstaatlichung des bauaufsichtlichen Verfahrens und eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten bezweckt worden sei, so dass der Bauherr nunmehr der eigentliche Gegner sei[927]. Diese Ansicht verkennt allerdings, dass dies zu einer weiteren