Normen im Bauordnungsrecht
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Im Vordergrund des Drittschutzes im Baurecht stehen bauplanungsrechtliche Vorschriften[801]. Dennoch wird auch bauordnungsrechtlichen Vorschriften Nachbarschutz zuerkannt, wiewohl die meisten Vorschriften des Bauordnungsrechts objektiv-rechtlicher Natur sind[802]. Eine gewisse Unübersichtlichkeit ergibt sich allerdings nicht nur aus den unterschiedlichen Ausgestaltungen der Landesbauordnungen, sondern auch aus der fehlenden Revisibilität der bauordnungsrechtlichen Normen. Im Fokus stehen insbesondere die Regelungen der Abstandsflächen, des Brand- und Immissionsschutzes und – mit Einschränkungen – auch das bauordnungsrechtliche Verunstaltungsverbot. Wie im Bauplanungsrecht, so hat sich auch für das Bauordnungsrecht die Frage gestellt, ob das Rücksichtnahmegebot Nachbarschutz vermitteln könne[803].
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Abstandsflächen[804] sind für den Nachbarschutz besonders relevant. Grundsätzlich ist die volle Abstandsflächentiefe nachbarschützend[805], wobei manche Landesbauordnungen von diesem Grundsatz eine Ausnahme machen und nur einem Teil der Tiefe Nachbarschutz zusprechen[806]. Dagegen sollen ortsrechtliche Vorschriften, die tiefere Abstandsflächen vorsehen als die jeweilige Landesbauordnung, nicht nachbarschützend sein[807]. Der Nachbar kann auch dann noch die Nichteinhaltung der Abstandsflächen durch den Bauherrn geltend machen, wenn er selbst gegenüber dem Grundstück des Bauherrn gegen das Abstandsflächenrecht verstoßen hat, solange der Verstoß des Bauherrn den eigenen überwiegt[808]. Anforderungen an den Brandschutz wie Brandwände sind nachbarschützend.[809]
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Das bauordnungsrechtliche Verunstaltungsverbot[810] dient nach ganz herrschender Ansicht grundsätzlich ausschließlich dem öffentlichen Interesse und verleiht dementsprechend keinen Drittschutz[811]. Ästhetische Belastungen sind also grundsätzlich hinzunehmen[812]. Nur im Einzelfall wird von der Rechtsprechung ein nachbarschützender Charakter angenommen, gerade wenn das bauästhetische Empfinden in gröbster Weise verletzt und ein besonders enges nachbarschaftliches Verhältnis, z.B. in Reihen- oder Doppelhäusern, gegeben ist[813]. Diese restriktive Rechtsprechung ist wenig überzeugend; liegt wirklich eine Verunstaltung vor, ist niemand mehr belastet als der Nachbar – ganz abgesehen davon, dass sich die herrschende Ansicht in Widersprüche verwickelt, wenn sie die bauordnungsrechtlichen Verunstaltungsverbote einerseits insbesondere mit dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit Dritter aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG rechtfertigt, aber andererseits den Drittschutz versagt. Freilich hätte eine in diesem Sinne konsequente Lösung vermutlich den Nachteil einer Zunahme von Nachbarrechtsstreitigkeiten, weil die Berufung auf das Verunstaltungsverbot wohl zum ‚letzten Rettungsanker‘ des Nachbarn würde.
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Auch bei den Vorschriften über Stellplätze ist zu differenzieren: Bestimmungen über die ausreichende Anzahl von Stellplätzen[814] kommt grundsätzlich keine drittschützende Wirkung zu[815]. Allerdings kann etwa bei dem Fehlen ausreichender Stellplätze ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot vorliegen[816]. Dagegen sind diejenigen Bestimmungen, die anordnen, dass Stellplätze die Umgebung nicht stören dürfen[817], als bauordnungsrechtliche Vorschriften zum Schutz vor Immissionen unproblematisch nachbarschützend[818].
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Für die Vorschriften der Bauordnungen über Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen[819] ergibt sich in der Regel bereits aus dem Wortlaut, dass sie Nachbarschutz vermitteln, da sie die Einbeziehung nachbarlicher Interessen vorschreiben[820]. Ansonsten ergibt sich der nachbarschützende Charakter daraus, dass die Interessen des Nachbarn auf Rechtsfolgenseite im Ermessen zu berücksichtigen sind[821].
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Schließlich wird den in § 3 der Landesbauordnungen formulierten allgemeinen Anforderungen[822] an bauliche Anlagen drittschützender Charakter zuerkannt, soweit sie im konkreten Fall den Schutz subjektiver Rechte im Blick haben[823]. Aufmerksamkeit hat ein Fall erregt, in dem Nachbarn die Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung eines bisherigen Postbetriebsgebäudes in ein türkisches Konsulat anfochten und sich hierfür unter anderem auf § 3 der (baden-württembergischen) Landesbauordnung stützten: Die neue Nutzung bedrohe ihre Sicherheit, weil die Gefahr terroristischer Anschläge bestehe. Mangels einer konkreten Gefahr wurde die Klage freilich abgewiesen[824].
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Keinen eigenständigen Nachbarschutz vermitteln die verfahrensrechtlichen Normen der Bauordnungen. So schützen nach überkommener Dogmatik die nachbarlichen Beteiligungsrechte im Baugenehmigungsverfahren das Verfahren nicht um seiner selbst Willen, sondern im Hinblick auf ein dahinterstehendes materielles Recht des Betroffenen. Eine Klagebefugnis und eine Rechtsverletzung setzen bei Verstoß gegen die Beteiligungsvorschriften voraus, dass der Nachbar zugleich einen materiellen Verstoß geltend machen kann[825]; die nachbarlichen Beteiligungsrechte sollen dabei nicht einmal ein sog. relatives Verfahrensrecht darstellen[826]. Auch die Vorschriften über die Einordnung eines Vorhabens in die richtige (deregulierte) Verfahrensart (Verfahrensfreiheit, Genehmigungsfreistellung, [vereinfachtes] Genehmigungsverfahren) vermitteln keinen Nachbarschutz[827]. Aus nachbarlicher Sicht ist es daher unbeachtlich, ob die Bauaufsichtsbehörde etwa das Vorliegen des vereinfachten Genehmigungsverfahrens zu Recht angenommen hat oder nicht[828]. Ebenso stellt es für sich allein keine Verletzung von Nachbarrechten dar, wenn die Bauaufsichtsbehörde den Prüfungsumfang einer vereinfachten Baugenehmigung bewusst überschreitet und die Übereinstimmung mit nicht zu prüfenden Normen bescheinigt[829]. Eine Rechtsverletzung des Nachbarn kann sich nur aus dem umgekehrten Fall ergeben, in dem nachbarschützende Vorschriften, die zum Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde gehört hätten, nicht beachtet wurden[830].
d) Nachbarschutz aus Grundrechten?
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In der Rechtsprechung kam die Frage auf, ob sich Nachbarschutz auch direkt aus Grundrechten, insbesondere aus Art. 14 GG, herleiten lasse, wenn eine einfachrechtliche nachbarschützende Norm nicht vorhanden ist. Es verwundert nicht, dass das BVerwG diese Frage ursprünglich bejahte, ganz so, wie es auch den Bestandsschutz direkt aus Art. 14 GG abgeleitet hatte[831]: Eine Baugenehmigung verletze dann den nachbarlichen Eigentumsschutz, „wenn sie bzw. ihre Ausnützung die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändern und dadurch den Nachbarn schwer und unerträglich treffen“[832]. Mit der von der Nassauskiesungsentscheidung des BVerfG beförderten Einsicht[833], dass Art. 14 GG als normgeprägtes Grundrecht keinen jenseits des einfachen Rechts liegenden Nachbarschutz (oder Bestandsschutz) kennen kann, musste sich freilich auch die bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ändern. Einen unmittelbaren Abwehranspruch des Nachbarn, hergeleitet aus Art. 14 GG, lehnt das BVerwG nunmehr zu Recht ausdrücklich ab[834]. Daraus ergibt sich auch keine Lücke für den Nachbarschutz: Zum einen war der auf Art. 14 GG gestützte Abwehranspruch in der Praxis ohnehin weitgehend bedeutungslos[835]. Zum anderen füllt das an bauplanungsrechtlichen Normen festgemachte Gebot der Rücksichtnahme die Lücke[836].
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Selten hat die Rechtsprechung für einen nachbarlichen Abwehranspruch auch auf andere Grundrechte zurückgegriffen oder zumindest eine solche grundrechtliche Konstruktion ventiliert, insbesondere über Art. 2 Abs. 2 S. 1[837], Art. 5 Abs. 3 S. 1[838] und Art. 4 GG[839]. Dabei besteht der Vorzug des Abwehranspruchs aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch darin, dass sich – anders als bei den einfachrechtlichen Normen des Bauordnungsrechts – sogar die ‚bloß‘ obligatorisch Berechtigten auf ihn berufen können[840]. Insgesamt erscheint diese Dogmatik als nicht unbedenklich. Zwar treffen bei den genannten Grundrechten nicht dieselben Bedenken zu wie bei Art. 14 GG[841], weil es sich bei ihnen gerade nicht um normgeprägte Grundrechtsverbürgungen handelt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass über einen unmittelbaren Rückgriff auf die Grundrechte die einfachgesetzlichen Normierungen unterlaufen werden[842].
e) Rücksichtnahmegebot im Bauordnungsrecht?