mehr ergehen kann.
Teilweise wird ein derartiger sog. ‚passiver‘[662] Bestandsschutz im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG bejaht.[663] Vor diesem Hintergrund wird teilweise auch die Faustformel von der formellen und materiellen Baurechtswidrigkeit dahingehend verstanden, „dass die Anlage nicht durch eine Baugenehmigung gedeckt wird und seit ihrer Fertigstellung fortdauernd gegen materielles Baurecht verstößt“[664]. Einschränkend wird aber gefordert, der baurechtmäßige Zustand solle – hier orientiert man sich an der Frist von § 75 S. 2 VwGO – mindestens drei Monate betragen[665]. Diese traditionelle Ansicht erfährt in jüngster Zeit starke Kritik: Wegen der Normgeprägtheit des Eigentumsgrundrechts könne sich ein Bestandsschutz nur aus einfachem Recht ergeben[666]. Da im vorliegenden Fall aber gerade kein einfachrechtlicher Bestandsschutz normiert sei, lägen für eine Beseitigungsverfügung alle Voraussetzungen vor[667]. Die letzte Schlussfolgerung erscheint indes etwas voreilig (siehe Rn. 137).
136
Eine Änderung der Sach- und Rechtslage kommt auch zwischen der letzten Behördenentscheidung und der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in Betracht. Eine weitere wichtige Fallgruppe betrifft daher Konstellationen, in denen eine Anlage baurechtswidrig errichtet worden ist und die Bauaufsichtsbehörde eine Beseitigungsanordnung erlässt, bevor sich danach die Rechtslage zugunsten des Bauherrn ändert. Hier stellt sich das Problem der maßgeblichen Sach- und Rechtslage für das Gericht. Während in Anfechtungssituationen grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen ist[668], wird in dieser Fallgestaltung eine Ausnahme anerkannt. Es sei „sinnwidrig […], müsste der Bauherr bauliche Anlagen abreißen, deren Wiedererrichtung sogleich nach dem Abriss ihm gestattet werden müsste“[669]. Abzustellen ist daher auf die letzte mündliche Verhandlung vor Gericht[670].
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Der Vergleich zwischen Konstellation 3 (zwischenzeitliche materielle Baurechtmäßigkeit) und der gerade eben geschilderten Konstellation (Änderung Sach- und Rechtslage nach letzter Behördenentscheidung) macht deutlich, dass jeweils mit unterschiedlichen Topoi argumentiert wird. Während bei der zwischenzeitlichen materiellen Baurechtmäßigkeit alles an der Frage zu hängen scheint, ob direkt aus Art. 14 GG ein passiver Bestandsschutz hergeleitet werden kann (was zu verneinen ist), werden für die Frage der maßgeblichen Sach- und Rechtslage Vertrauensschutzerwägungen herangezogen[671]. Das wirft die Frage auf, ob nicht auch der passive Bestandsschutz (Konstellation 3) mit Vertrauensschutzerwägungen gelöst werden sollte. Als Mindestvoraussetzung für ein schutzwürdiges Vertrauen könnte man sich wiederum an der Drei-Monats-Frist des § 75 S. 2 VwGO orientieren. Damit wäre im Ergebnis eine angemessene Lösung gefunden, ohne den unhaltbaren Weg über das normgeprägte Eigentumsgrundrecht gehen zu müssen[672]. Zugleich wären mit dieser Lösung Wertungswidersprüche zwischen den beiden Konstellationen vermieden.
4. Die bauordnungsrechtliche Generalklausel
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Alle Landesbauordnungen kennen eine bauordnungsrechtliche Generalklausel. Diese Generalklauseln sind nicht mit den oben erwähnten Aufgabenzuweisungsnormen zu verwechseln[673], die verwirrenderweise bisweilen ebenfalls als bauordnungsrechtliche Generalklauseln bezeichnet werden[674]. Laut den bauordnungsrechtlichen Generalklauseln können die Bauaufsichtsbehörden in Wahrnehmung ihrer Aufgaben „die erforderlichen Maßnahmen treffen“[675]. Auf diese Generalklausel muss immer dann zurückgegriffen werden, wenn es für die anstehende Maßnahme an einer der erwähnten spezialgesetzlichen Ermächtigungen fehlt oder eine Maßnahme sich gegenüber einer Standardmaßnahme als milderes Mittel darstellt[676]. Umstritten ist in der Rechtsprechung, ob auch die sog. Nutzungsaufnahmeuntersagung, also das Verbot der rechtswidrigen Nutzung einer baulichen Anlage vor Beginn der Nutzung, auf die Generalklausel zu stützen ist[677].
5. Rechtsfolge
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Sämtliche Befugnisnormen des Bauordnungsrechts räumen den Bauaufsichtsbehörden in der Rechtsfolge Ermessen ein, und zwar sowohl Entschließungs- als auch Auswahlermessen. Grundsätzlich gelten insoweit die Maßgaben des § 40 des jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetzes[678]. Allerdings geht die Rechtsprechung davon aus, dass trotz des ausdrücklich eingeräumten Ermessens die Bauaufsichtsbehörden einschreiten sollten („soll“ im Sinne der Verwaltungsrechtsdogmatik[679]), wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für Baueinstellung[680], Nutzungsuntersagung[681] und Beseitigungsanordnung[682] gegeben sind. Im Ergebnis wird damit erreicht, dass die Bauaufsichtsbehörden einschreiten müssen, es sei denn, es liegen im Einzelfall außergewöhnliche Umstände vor, die eine andere Rechtsfolge rechtfertigen. Diese interpretatorische Verschiebung contra legem von einem „kann“ zu einem „soll“ wird mit der Figur des sog. intendierten Ermessens erklärt. Der Eingriff durch die Bauaufsichtsbehörden stehe dem Gesetz näher als das Nichteinschreiten[683]. Dementsprechend nimmt die Rechtsprechung auch keine Ermessensunterschreitung an, wenn die Behörde ohne weitere Ermessenserwägungen die bauaufsichtliche Maßnahme ergreift, solange keine „außergewöhnliche[n] Umstände des Falles bekannt geworden oder erkennbar sind, die eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen“[684]. Auswirkungen hat die Bejahung des intendierten Ermessens schließlich auch für die Begründung der Ermessensausübung nach § 39 Abs. 1 S. 3 (L)VwVfG[685], die nach der Rechtsprechung als entbehrlich entfällt[686].
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In der Literatur stößt die Erfindung des intendierten Ermessens durch die Rechtsprechung überwiegend auf Kritik[687]. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass es den Landesgesetzgebern freigestanden hätte, als Rechtsfolge ein „Sollen“ zu normieren; die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten eines offenen Ermessens dürfe nicht überspielt werden[688]. Zwar ist der Rechtsprechung insofern beizustimmen, dass die Bauaufsichtsbehörde häufig keine weiteren Erwägungen wird anstellen können als diejenigen, die sie schon auf Tatbestandsseite abgearbeitet hat. Dennoch wird man fordern müssen, dass sich die Behörde zum einen bewusst bleibt, dass sie über einen Ermessensspielraum verfügt, und zum anderen, dass sie begründet, warum ein Regelfall vorliegt[689]. Nur auf diese Weise kann kontrolliert werden, ob die Behörde ermessensfehlerfrei entschieden hat. Akzeptiert man dagegen mit der Rechtsprechung ein intendiertes Ermessen als Rechtsfolge der spezialgesetzlichen Bauaufsichtsbefugnisse, muss dieses auch konsequent umgesetzt werden. Insbesondere bei Anträgen von Nachbarn auf Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde bei einer Verletzung nachbarschützender Vorschriften darf sich die Behörde dann nicht (plötzlich) auf ihr Ermessen berufen dürfen (siehe Rn. 185 ff.)[690]. Auch hier muss dann im Regelfall eingeschritten werden[691], statt umgekehrt den Anspruch des Nachbarn im Regelfall abzulehnen[692].
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Gerade bei der Beseitigungsanordnung ist angesichts des erheblichen Substanzverlustes, der mit der Beseitigung der baulichen Anlage verbunden ist, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme besonders streng zu prüfen. Im Vordergrund steht hierbei die Erforderlichkeitsprüfung, die einfachgesetzlich in den Befugnisnormen zum Abbruch eigens geregelt ist[693]. Abgesehen von den schon erwähnten Legalisierungsfragen ist hier vor allem zu untersuchen, ob statt einer Beseitigung eine bloße Nutzungsuntersagung[694] oder zumindest ein Teilabriss[695] ausreichend ist. Dagegen kann der Bauherr weder die Geringfügigkeit der Baurechtswidrigkeit[696] (sonst würde mangels Durchsetzbarkeit jeder Bauherr kleine Abweichungen zu seinen Gunsten einkalkulieren) noch seine wirtschaftlichen Interessen[697] ins Feld führen.
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Innerhalb des Ermessens spielt insbesondere bei der Beseitigungsanordnung auch der allgemeine Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG, eine bedeutende Rolle. Im Zentrum steht das Problem, ab wann der Bauaufsichtsbehörde der Vorwurf eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz gemacht werden kann, wenn sie ihr Ermessen bei mehreren baurechtswidrigen