Gabriele Jansen

Zeuge und Aussagepsychologie


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      Erinnerung bei lange zurückliegenden Vorgängen. Die Erinnerungsfähigkeit hängt bei länger zurückliegenden Vorgängen – nach BGH [4 StR 412/00] – „maßgebend unter anderem von der Bedeutung des Vorgangs für den Zeugen, von der Häufigkeit ähnlicher Vorgänge und der Länge des Zeitablaufs“ ab.

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• BGH [3 StR 281/07] Intellektuelle Fähigkeiten des Zeugen, sich die Aussage auszudenken

      Sexuelle Vorerfahrungen/Eigene Missbrauchserfahrungen des Aussagenden. Der Aussagepsychologe prüft im Rahmen der Aussagetüchtigkeit auch, über welche sexuellen Vorerfahrungen bzw. über welche sexuellen Kenntnisse der kindliche Zeuge verfügt. Das ist für die Prüfung der sog. Übertragungshypothese – ob der Zeuge den behaupteten sexualbezogenen Sachverhalt in einem anderen Zusammenhang oder mit einer anderen Person erlebt hat – von Belang.

      Sexuelle Vorerfahrungen/Eigene Missbrauchserfahrungen des Aussageempfängers. Auch die Aussage des sog. Aussageempfängers ist einer Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen. Der Aussageempfänger ist die Person, der gegenüber der Zeuge sich zu dem Vorwurf äußert. Zu prüfen ist vor allem, ob er in dem Gespräch mit dem Zeugen voreingenommen ist, ein bestimmtes Geschehen im Blick hat oder sich vorstellt und den Zeugen dementsprechend dazu befragt.

      Ist z. B. eine Mutter selbst von ihrem Stiefvater missbraucht worden und erfährt sie, dass ihrer Tochter „dasselbe“ mit ihrem Lebensgefährten passiert ist, wird das sicher in ihre Reaktion mit einfließen. Nahe liegt, dass sich die Mutter in einem Gespräch mit der Tochter an ihren eigenen Erlebnissen „orientiert“ und so z. B. die Tochter in der Befragung „lenkt“, z. B. danach fragt, ob der Lebensgefährte ihr auch die Hand in die Hose gesteckt hat, wenn die Mutter das mit ihrem Stiefvater auch so erlebt hat. Eine solche Erwartungshaltung bzw. Voreinstellung kann die Antworten der Tochter erheblich beeinflussen. Hier wird man das Augenmerk auf die ursprünglichen Angaben des Zeugen und mögliche Veränderungen – womöglich noch in demselben Gespräch – lenken müssen, erst recht, wenn die Zeugin erst in dem Gespräch mit dem Aussageempfänger von deren Vorerfahrung erfährt.

      Von daher überwiegt das Aufklärungsinteresse gegenüber dem Persönlichkeitsschutz des Aussageempfängers als Zeugen i. S. d. § 68a StPO.

      Früheres Verhalten in vergleichbaren früheren Lebenssituationen. Zeugen können auch nach ihren Alkoholkonsumgewohnheiten gefragt werden, ebenso zu möglichem Drogenkonsum, wenn das einen Zusammenhang zu dem erhobenen Vorwurf hat.

Fehlverhalten bei oder nach Beendigung privater Beziehung, z. B. Alkoholismus

      Teil 1 ZeugenaussageIII › 5. BGH-Rechtsprechung zur Fehlerquellenanalyse

5. BGH-Rechtsprechung zur Fehlerquellenanalyse

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      Der Entstehung und Entwicklung der Aussage kommt für sämtliche Deliktsbereiche bei der Beurteilung kindlicher wie auch erwachsener Zeugenaussagen wesentliche Bedeutung zu. Man unterscheidet zwischen der Erstaussage und allen weiteren Aussagen, die der Zeuge über das fragliche Geschehen einem oder mehreren anderen gegenüber macht.

      Näheres dazu findet sich unter Teil 3 VIII (Rn. 494 ff.) „Fehlerquellenanalyse“.

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      Suggestionseffekte können die Aussage inhaltlich so verändern, dass Kinder möglicherweise auch über etwas berichten, was sie selbst nicht so erlebt haben.

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      Checkliste: Prüfung der Aussageentstehungsgeschichte

       Fragen nach den ersten Angaben zum Geschehen

wann
wem gegenüber
welche Angaben
zum ersten Mal
in welcher Situation

       Äußerungen

spontan oder
erst auf Befragen
welche Art Fragen wurden gestellt

       Einstellungen und Erwartungen des Aussageempfängers

       Reaktion des Aussageempfängers auf die Angaben

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      Aussageempfänger ist häufig z. B. die Mutter, eine Freundin oder eine dem Kind sonst vertraute Person. Es muss versucht werden, die Situation genauestens zu rekonstruieren, um so möglicherweise wirksam gewordene Suggestionseffekte und andere Fehlerquellen finden und überprüfen zu können (Erstaussageanalyse).

       BGH [1 StR 618/98]

      „Im Rahmen der Fehlerquellenanalyse wird es in Fällen, bei denen wie hier (auch unbewußt) fremdsuggestive Einflüsse in Erwägung zu ziehen sind, in aller Regel erforderlich sein, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären (vgl. Steller/Volbert aaO S. 24, 31f.; Köhnken a.a.O. 297). …

      Die Feststellung der Aussagegenese stellt insofern einen zentralen Analyseschritt dar (Gutachten Prof. Dr. Steller). Besonders dann, wenn es sich bei dem möglichen Tatopfer um ein (jüngeres) Kind handelt, werden zu diesem Zweck die Angaben der Personen, denen gegenüber es sich zu den Tatvorwürfen geäußert hat (z. B. Eltern, Lehrer), zu berücksichtigen sein (BGH StV 1995, 451 f.; Scholz/Endres NStZ 1995, 6, 10).“

       (1) Aussageentstehung