Olaf Klemke

Einführung in die Praxis der Strafverteidigung


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massenhaft vorsätzlich Unschuldige verfolgt. Dies wird wohl niemand ernsthaft in Betracht ziehen.

c) Exkurs: Aufgaben der Strafverteidigung im Gefüge des Strafverfahrens

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      Es kommt auch gar nicht darauf an, ob der einzelne Mandant schuldig ist oder nicht. Die verfahrensrechtliche Aufgabe besteht zwar auch, aber nicht in erster Linie darin, Unschuldige vor ungerechtfertigter Verurteilung und Bestrafung zu bewahren. Der Verteidiger ist als einseitiger, streng parteilicher Beistand des Beschuldigten eine verfahrensrechtliche Gegenmacht zu dem das Strafverfahren betreibenden Staat. Seine vordringlichste Aufgabe ist zunächst, dafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Verfahrensrechte des Mandanten gewahrt als auch die sonstigen verfahrensrechtlichen Normen peinlichst genau beachtet werden. Denn nur die Einhaltung der formellen Sicherungen ist der Garant für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und damit für die Schaffung einer zutreffenden Urteilsgrundlage. Die verfahrensrechtlichen Regelungen sind nicht Selbstzweck. Vielmehr dienen sie dazu, die Verurteilung eines Unschuldigen zu verhindern und ein gerechtes Urteil zu fällen. Nur ein Urteil, welches auf Grund eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens ergangen ist, kann daher ein richtiges, ein gerechtes Urteil sein.

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      Dies gerät jedoch zusehends mehr und mehr in Vergessenheit. Die Formerfordernisse der Strafprozessordnung werden von vielen, vielleicht sogar von den meisten, Strafrichtern geringschätzig als bloße „Förmeleien“ betrachtet. Verteidiger, die zum Schutze der Rechte ihrer Mandanten auf der Einhaltung der Verfahrensvorschriften bestehen, werden von diesen Richtern als Querulanten angesehen; oder man wirft ihnen vor, mit angeblicher „Konfliktverteidigung“ die Strafrechtspflege zu sabotieren.

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      Der Verteidiger kann im Interesse seines Mandanten nicht zuwarten, bis die Rechtsprechung den Wert der Formenstrenge hoffentlich wiedererkennt. Er hat vielmehr gegen jede Verletzung von Verfahrensvorschriften mit den ihm von der Strafprozessordnung zur Verfügung gestellten Mitteln einzuschreiten und so in jeder Hauptverhandlung aufs Neue für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu kämpfen.

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      Sollte das Eintreten des Verteidigers für die Einhaltung der den Angeklagten schützenden Formen dazu führen, dass der Schuldnachweis nicht geführt werden kann und der schuldige Angeklagte freizusprechen ist, sollte dies das Selbstverständnis des Verteidigers nicht erschüttern. Das Gesetz selbst geht davon aus, dass auch der schuldige Angeklagte nur in der von ihm vorgegebenen Verfahrensweise abgeurteilt werden darf.

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      Dies gilt auch für die Verteidigung im Jugendstrafverfahren. Der sog. „Erziehungsgedanke“ des Jugendstrafrechts wird von den „staatlichen Erziehungsträgern“ als trojanisches Pferd verstanden, mit denen die Fesseln der beschuldigtenschützenden Formen des Strafprozesses abgeworfen werden sollen. Die Verfahrensbeteiligten (einschließlich des Verteidigers) sollen in harmonischer Eintracht am Jugendlichen herum erziehen. Derjenige Verteidiger, der auf Einhaltung der schützenden Formen der Strafprozessordnung besteht, wird als „Fremdkörper“ oder als „Störenfried“ angesehen, der die sonst einvernehmliche staatliche Erziehungsveranstaltung „sprengt“. Nach wie vor gilt jedoch: auch Jugendstrafrecht ist und bleibt Strafrecht. Es besteht daher kein Anlass für den Verteidiger, eine „Strafverteidigung light“ zu fahren und Beihilfe zum staatlichen Erziehungsunterricht zu leisten. Alles andere wäre Verrat am jugendlichen Mandanten.

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      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass es für den Verteidiger grundsätzlich unbeachtlich sein muss, ob er einen Angeklagten verteidigt, den er für schuldig oder aber für unschuldig hält. Dahs sieht dies anders. Er meint, es sei für den Anwalt,

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      Dieser Ansicht ist entgegenzutreten. Der Strafverteidiger darf sowohl bei der Frage der Übernahme eines Mandates als auch bei derjenigen, welche Verteidigungsstrategie er wählt, nicht moralisch-ethische Maßstäbe anlegen, sondern ausschließlich rechtliche.