Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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die Kommission hat schon in ihrem Ersten Wettbewerbsbericht von 1971 die Bedeutung des Systems unverfälschten Wettbewerbs folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:[6]

      „Der Wettbewerb stimuliert in der Tat am besten die wirtschaftliche Aktivität und sichert für die Beteiligten den größtmöglichen Freiheitsspielraum. Eine aktive Wettbewerbspolitik, wie sie die Verträge zur Gründung der Gemeinschaften vorschreiben, erleichtert die ständige Anpassung der Angebots- und Nachfragestrukturen und die technische Entwicklung; das freie Spiel dezentralisierter Entscheidungsmechanismen führt zu einer ständig verbesserten Leistungsfähigkeit der Unternehmen und bildet so die Grundlage für ein stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Völker der Gemeinschaft.“

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      Im Kontext des AEUV erfüllt das System unverfälschten Wettbewerbs auch eine spezifisch integrationspolitische Funktion, die aber ebenfalls im Dienst des Effizienz- und Wachstumsziels steht wie es in Art. 3 Abs. 1 EUV enthalten ist. Für die Integration nationaler Märkte in einen Binnenmarkt sind zunächst einmal die wirtschaftlichen Verkehrsfreiheiten konstitutiv. Sie beinhalten an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbote, den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr zu beschränken. Durch diese Öffnung der nationalen Märkte erhalten die in den Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen die Möglichkeit, in die Märkte der jeweils anderen Mitgliedstaaten einzudringen. Die dadurch begründete Handlungsfreiheit der Unternehmen und Verbraucher führt von selbst zur Intensivierung des Wettbewerbs in der gesamten Union. Es ist dieser Prozess des grenzüberschreitenden Wettbewerbs, der im Kern die wirtschaftliche Integration in der EU ausmacht. Die wechselseitige Durchdringung der nationalen Märkte wird nicht von den Regierungen der Mitgliedstaaten angeordnet, sondern vielmehr von den Marktteilnehmern selbst erreicht, indem sie sich als Wettbewerber über die nationalen Grenzen hinweg betätigen. Die wirtschaftlichen Freiheiten geben ihnen die Möglichkeit dazu; die Anreize, von diesen Freiheiten auch Gebrauch zu machen, schafft der Wettbewerb.

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      Literatur:

      Adam Smith Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, übersetzt von M. Streissler, hrsg. von E.M. Streissler (1999); Hildebrand The Role of Economic Analysis in the EC Competition Rules (2002); Motta Competition Policy – Theory and Practice (2004); Knieps Wettbewerbsökonomie (2. Aufl. 2005); Carlton/Perloff Modern Industrial Organization (4th. ed. 2005); van den Bergh/Camesasca European Competition Law and Economics (2nd ed. 2006); Bishop/Walker Economics of E.C. Competition Law: Concepts, Application and Measurement (3rd. ed. 2007); Schmidt/Haucap Wettbewerbspolitik und Kartellrecht (10. Aufl. 2013); Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 3 Wettbewerb der Unternehmen, IV. Wettbewerbstheorie als Preistheorie, 69 ff.; Kerber/Schwalbe Die ökonomischen Grundlagen des Wettbewerbsrechts, in: MüKoEuWettbR (2. Aufl. 2015), Einl. B., 22, Rn. 131 ff.

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      Für die Interpretation und Anwendung der Wettbewerbsregeln, insbesondere für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale, welche die Sachverhalte umschreiben, auf die sie sich beziehen, ist das Verständnis einiger grundlegender ökonomischer Konzepte unerlässlich. Wettbewerbsrechtliche Regelungen betreffen Vorgänge, deren Sinn in ökonomischen Kategorien erschlossen werden muss, bevor sie rechtlich bewertet werden können. Der dafür einschlägige Zweig der Volkswirtschaftslehre ist die Mikroökonomik, die das Verhalten von Marktteilnehmern als Reaktion auf bestimmte marktbedingte Anreize (vor allem in Form von Preisen) analysiert. Insbesondere ist das Verhalten der Marktteilnehmer nicht unabhängig von der jeweiligen Marktstruktur. Ein Monopolist verhält sich aufgrund der Anreize, denen er ausgesetzt ist, anders als ein Unternehmen, das in einem polypolistischen Markt mit dem Wettbewerb einer Vielzahl von Konkurrenten konfrontiert ist. Entsprechend unterschiedlich ist die Situation der Marktteilnehmer auf der jeweiligen Marktgegenseite im Hinblick auf die alternativen Geschäftsabschlussmöglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen und zwischen denen sie wählen können. Solche Verhaltensunterschiede führen jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen im Hinblick auf die Verteilung der Ressourcen und damit auf die Allokationseffizienz. Die Mikroökonomik beschäftigt sich seit langem mit den Beziehungen zwischen Marktstrukturen, dem Verhalten von Unternehmen und den daraus resultierenden ökonomischen Ergebnissen.

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      Zu analytischen Zwecken verwendet die Mikroökonomik Modelle, die solche Zusammenhänge widerspiegeln. Ausgangspunkt ist dabei das Modell des homo oeconomicus. Es unterstellt, dass die Marktteilnehmer sich stets in dem Sinne rational verhalten, dass sie entsprechend ihren Präferenzen zielgerichtet ihren Nutzen maximieren und zwar aufgrund vollständiger Information. Die Tatsache, dass sich die Marktteilnehmer in Wirklichkeit häufig über ihre Präferenzen keineswegs im Klaren sind, dass sie in der Regel nicht über vollständige Informationen verfügen und unter Unsicherheit entscheiden müssen, so dass allenfalls von eingeschränktem Rationalverhalten (bounded rationality) gesprochen werden kann, wird im Modell ebenso ausgeblendet wie die Existenz von Transaktionskosten. (Auf die Relevanz dieser Gesichtspunkte, mit denen sich die Verhaltens-, Transaktionskosten- und Institutionenökonomik beschäftigt und die die Gültigkeit