Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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ist nicht nur wirklichkeitsfremd. Sie geht auch von einer statischen Betrachtungsweise aus, die Veränderungen aus der Analyse ausklammert. So ist gerade die Produktdifferenzierung (und damit die Inhomogenität der Produkte) in der Realität ein wichtiges Element des Wettbewerbs, ebenso wie die Fortentwicklung der Produktionstechnologie und der Unternehmensorganisation Skalenerträge (economies of scale) ermöglicht. Zwar führt die Entwicklung neuer Produkte und Produktionstechnologien, die sich von allen bisherigen unterscheiden, zu einer gewissen Unabhängigkeit des einzelnen Unternehmens von den Kräften des Wettbewerbs, also zu einer gewissen Marktmacht und zu dem was man „monopolistische Konkurrenz“ genannt hat (siehe dazu oben Rn. 308).[43] Aber bei einer Betrachtung des Wettbewerbs als Prozess[44] bzw. als dynamisches Interaktionssystem ist ein solches Innovationsverhalten geradezu die treibende Kraft der Konkurrenz. Wettbewerb besteht aus dieser Sicht im Kern darin, dass Unternehmen miteinander rivalisieren, indem sie innovative Produkte und Produktionstechnologien oder effizientere Vertriebsmethoden und Organisationsstrukturen entwickeln, die ihnen einen Vorsprung vor den Konkurrenten garantieren. Dieser Vorsprung gewährt ihnen solange gewisse Handlungsspielräume am Markt, bis sie von den Konkurrenten durch deren Neuentwicklungen eingeholt bzw. überholt worden sind.[45] Man spricht in diesem Sinne von „vorstoßendem Wettbewerb“. Schumpeter hat ihn als einen „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ bezeichnet.[46]

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      Die Entwicklung neuer und besserer Produkte sowie die Entwicklung kostensparender Produktionstechnologien, Vertriebsmethoden und Organisationsstrukturen liegen letztlich auch im Interesse der Konsumenten. Der dynamische Wettbewerbsprozess fördert also durchaus sowohl die allokative Effizienz im Sinne der Präferenzgerechtigkeit und die produktive Effizienz im Sinne der Kosteneffizienz als auch das Wachstum im Sinne einer Steigerung der Produktivität. Wohlfahrtsökonomisch gesehen können also Abweichungen vom Modell des vollkommenen Wettbewerbs nicht nur Effizienzverluste im Sinne eines „dead weight loss“ (= statische Betrachtung) zur Folge haben (siehe oben Rn. 279), sondern auch Effizienzgewinne (= dynamische Betrachtung). Das Modell des vollkommenen Wettbewerbs negiert im Grunde sogar dessen Charakter als Entdeckungsverfahren. In diesem Modell werden nämlich alle Marktdaten als bereits bekannt vorausgesetzt; es gibt nichts zu entdecken. Für den einzelnen Marktteilnehmer ist es dann eine reine Rechenaufgabe, ob er sich angesichts seiner Kostenstruktur am Markt beteiligen soll oder nicht. Mit der Wahrnehmung wettbewerblicher Handlungsautonomie durch die Marktteilnehmer, die es ihnen ermöglichen soll, die jeweils konkurrenzfähigen Leistungsverbesserungen durch trial and error erst einmal zu entdecken, hätte das nichts zu tun.

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      Die Marktstruktur darf somit vor dem Hintergrund der heute allgemein akzeptierten dynamischen Wettbewerbskonzeption nicht im Sinne eines statischen Zustandes betrachtet, sondern sie muss unter dem Aspekt ihrer ständigen Entwicklung und Veränderung analysiert werden. Diese Entwicklung ist nicht allein durch Strukturveränderungen aufgrund von Konzentrations- bzw. Dekonzentrationsprozessen unter aktuellen Wettbewerbern gekennzeichnet, welche die Marktstruktur in Richtung auf ein Oligopol oder Monopol verengen bzw. in Richtung auf ein weites Oligopol oder Polypol erweitern können. Vielmehr stellen bei einer dynamischen Betrachtungswiese vor allem die Bedingungen für den Markteintritt potentieller Wettbewerber einen entscheidenden Faktor dar.

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      Die Marktstruktur wird aber über die Anzahl der am Markt aktiven Anbieter und Nachfrager hinaus durch weitere Gesichtspunkte gekennzeichnet wie insbesondere den Grad der Markttransparenz, die Heterogenität der Produkte, die Existenz von Größen- und Verbundvorteilen (economies of scale), etwaige Verflechtungen zwischen Unternehmen und das Ausmaß der vertikalen Integration. Es sind dies alles Faktoren, welche die reale Struktur eines bestimmten Marktes vom Modell des vollkommenen Wettbewerbs unterscheiden. Sie führen dazu, dass die in der Realität beobachtbaren Marktformen häufig oligopolistische oder monopolistische Züge aufweisen. Diese können aber zugleich auch als Markteintrittsschranken interpretiert werden: Produktdifferenzierung bedingt nämlich, dass aus der Sicht der Abnehmer keine vollständige Austauschbarkeit der Produkte besteht, dh die Umlenkung oder Umstellung der Nachfrage auf neue Produkte nicht kostenlos ist. Ebenso kann es die Struktur der Produktionskosten – vor allem ein degressiver Verlauf der Durchschnittskosten, der Skalenerträge ermöglicht – den etablierten Wettbewerbern aufgrund ihrer Betriebsgrößen erlauben, Preise zu verlangen, die ein neu in den Markt eintretender Wettbewerber nicht ohne weiteres unterbieten kann. Von erheblicher Bedeutung ist es ferner, ob mit einem Markteintritt in erheblichem Umfang irreversible Investitionen verbunden sind, die „versunkene“ Fixkosten verursachen. Solche Fixkosten beziehen sich auf Investitionen, die im Falle eines vorzeitigen Marktaustritts, der wegen mangelnden Erfolgs erforderlich werden könnte, wertlos sind. „Versunkene“ Kosten können für einen potentiellen Konkurrenten, der erwägt, neu in den Markt einzutreten, abschreckend wirken. Auch ein hoher Grad an vertikaler Integration, insbesondere im Falle der „Vorwärtsintegration“ von Produzenten in die nachgelagerten Handelsstufen hinein, kann es potentiellen Wettbewerbern erschweren, einen Neueintritt auf der Produktionsstufe ins Auge zu fassen. Schließlich resultiert ein Schutzeffekt daraus, dass der Markteintritt selbst gewöhnlich nicht kostenlos und nur mit einer mehr oder minder großen Verzögerung möglich ist. Aus alledem resultiert ein gewisser Schutz der etablierten Anbieter gegen potentiellen Wettbewerb.

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