Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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zuwächst (vgl. bereits oben Rn. 278 ff.).[51]

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      Trotz der somit begrenzten Operationalität des Gesichtspunkts der Marktstruktur ist ein richtig verstandener „Marktstrukturtest“ für die Bewertung eines bestimmten unternehmerischen Marktverhaltens als wettbewerbskonform oder wettbewerbswidrig unerlässlich. Wenn man nämlich den Wettbewerb zutreffend als ein auf individueller Handlungsautonomie der Marktteilnehmer beruhendes Interaktionssystem begreift, dann kommen in der Marktstruktur die Handlungsspielräume der Marktteilnehmer zum Ausdruck. Je größer beispielsweise die Zahl der konkurrierenden Anbieter, die hinsichtlich ihrer Leistungen rivalisieren, desto größer die Freiheit der Abnehmer, sich ihre Bezugsquelle für bestimmte Güter oder Leistungen auszuwählen. Dasselbe gilt umgekehrt für die Auswahlfreiheit der Anbieter hinsichtlich ihrer Absatzmöglichkeiten im Verhältnis zu den Abnehmern. Generalisierend lässt sich also sagen: je offener die Marktstruktur auf einer Seite des Marktes, desto größer die Handlungsspielräume auf der Marktgegenseite. Daraus folgt, dass unternehmerisches Verhalten stets auf seine Drittwirkungen im Sinne seines Einflusses auf die wettbewerblichen Handlungsspielräume anderer Marktteilnehmer hin zu bewerten ist. Diese Handlungsspielräume sind wegen ihrer konstitutiven Bedeutung für den Wettbewerb als Interaktionssystem schutzbedürftig. Dritte werden gewissermaßen wegen ihrer Systemrelevanz geschützt und das System findet seinen Ausdruck eben in der Marktstruktur. Der Drittschutz ist hier Systemschutz.

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      Da es wettbewerbspolitisch also um den Schutz der durch die Marktstruktur vermittelten autonomen Handlungsspielräume der Marktteilnehmer geht, gilt das Erfordernis negativer marktstruktureller Drittwirkungen für alle Formen unternehmerischen Marktverhaltens, die als Wettbewerbsbeschränkungen anzusehen sind. Dabei sind Marktstrukturveränderungen, die das Resultat überlegener wirtschaftlicher Leistung sind (wie im Fall des „internen“ Wachstums eines Unternehmens aufgrund seines Erfolges am Markt) von denen zu unterscheiden, die strategisch mit Mitteln herbeigeführt werden, die nicht Ausdruck überlegener wirtschaftlicher Leistung sind.

Denkbar ist zum einen, dass mehrere konkurrierende Unternehmen zusammenwirken, um ihr Marktverhalten derart zu koordinieren, dass sie die Marktstruktur negativ beeinflussen (Koordinierungsstrategie).
Zum anderen können sich Unternehmen organisatorisch zu neuen wirtschaftlichen Einheiten zusammenschließen und damit die Marktstruktur unmittelbar verengen (Konzentrationsstrategie).
Selbst durch einseitiges Verhalten können einzelne (marktbeherrschende) Unternehmen mit bestimmten Strategien strategische Eintrittsbarrieren für potentielle Konkurrenten errichten oder aktuelle Konkurrenten vom Markt verdrängen und dadurch die wettbewerblich bereits geschwächte Marktstruktur weiter negativ beeinflussen (Verdrängungsstrategie).

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      Der entscheidende wettbewerbsrelevante Aspekt, der all diesen Strategien gemeinsam ist, besteht also in der Benachteiligung Dritter hinsichtlich ihrer wettbewerblichen Handlungsspielräume, über die sie im Rahmen der jeweils gegebenen Marktstruktur verfügen und von denen sie aufgrund ihrer Handlungsautonomie Gebrauch machen können. Jede Verengung der Marktstruktur impliziert eine Reduktion der Alternativen, die der einen oder der anderen Marktseite als Bezugsquellen oder Absatzmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

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      Wettbewerbswidriges Verhalten von Unternehmen ist ein Kampfmittel im Prozess des Rivalisierens der Marktteilnehmer. In diesem Sinne ist unternehmerisches Verhalten stets ambivalent: Es ist einerseits Ausdruck des Wettbewerbs; aber es kann zugleich die Voraussetzungen dafür außer Kraft setzen, dass sich der Rivalitätsprozess auch für die Zukunft fortsetzt. Dem Marktverhaltenstest liegt die Annahme zugrunde, dass sich bestimmte Verhaltensweisen unabhängig von ihrer Drittwirkung als wettbewerbswidrig identifizieren lassen. Dabei geht es stets um Strategien, die das künftige Marktverhalten von Unternehmen determinieren, indem sie im Voraus den künftigen Einsatz bestimmter Wettbewerbsparameter dem Rivalitätsprozess entziehen.

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      Zu den grundlegenden Voraussetzungen des Rivalisierens der Konkurrenten gehört – wie bereits ausgeführt – die Handlungsautonomie der Marktteilnehmer. Jeder Konkurrent muss selbstständig darüber entscheiden können, was er wie produzieren will und in welchen Mengen, zu welchen Preisen und mit welchen Methoden er seine Produkte zu vertreiben beabsichtigt, und überhaupt: welche Mittel er als Aktionsparameter im Wettbewerb einsetzen will. Dabei wird er sich zwar über das wahrscheinliche Verhalten der Abnehmer ebenso wie das Verhalten seiner Konkurrenten so gut wie möglich informieren. Aber es bestehen keine zwingenden wechselseitigen Abhängigkeiten, welche die eigenen Entscheidungen inhaltlich determinieren würden. Dies schon deshalb nicht, weil Unternehmen ihre wirtschaftlichen Entscheidungen stets unter Unsicherheit treffen. Diese Unsicherheit beruht darauf, dass vollständige Information über das Verhalten der übrigen Marktteilnehmer grundsätzlich nicht zu erlangen ist. Wettbewerb lebt geradezu von der Ungewissheit bezüglich des Marktverhaltens der Konkurrenten und der Abnehmer. Ein wesentliches Element des Rivalisierens, das den Wettbewerbsprozess kennzeichnet, ist daher die selbstständige Suche nach immer besseren Produktionsmöglichkeiten durch Qualitätsverbesserungen bzw. Kostensenkungen. Die Anreize dazu ergeben sich gerade aus der Enttäuschung von Erwartungen und dem dadurch ausgelösten Zwang zur Veränderung. Durch Beschränkungen dieses Prozesses würde das Effizienzziel verfehlt, dem das Wettbewerbssystem langfristig dienen soll.

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      Dem Rivalisieren von Produzenten entspricht auf der Marktgegenseite die Auswahlfreiheit der potentiellen Abnehmer. Diese verfügen unter Wettbewerbsbedingungen über alternative und miteinander konkurrierende Bezugsquellen, die sie miteinander vergleichen und unter denen sie auswählen können. Auch diese Auswahlfreiheit hat die Autonomie der Abnehmer, dh ihre Selbstständigkeit zur Voraussetzung. Und sie hat ferner zur Voraussetzung, dass die Abnehmer sich hinreichend und zutreffend über die alternativen Angebote informieren können. Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Abnehmern verzerren die Vergleichsmöglichkeiten und verhindern, dass die Auswahl unter den konkurrierenden Angeboten bei gegebenem Preis ausschließlich nach qualitativen Gesichtspunkten getroffen wird. Im Falle von Informationsdefiziten auf Seiten der Abnehmer wird das Effizienzziel im Sinne der allokativen Effizienz (Präferenzgerechtigkeit)