Die h.M. verlangt darüber hinaus einen unmittelbaren, spezifischen Zusammenhang, eine objektive Zurechenbarkeit dahingehend, dass sich in dem Opferverhalten das durch den Zwang geschaffene Risiko realisiert (Eser S/S 14), doch wird er vom BGH schon bei einem mittelbaren Erfolg (BGH 41, 182, „2. Reihe-Rechtsprechung“, s.o. Rn. 17), ja bei einem vorsorglichen Anhalten bejaht.
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d) Die bloße Summierung der bisher erörterten Tatbestandsmerkmale vermag aber noch nicht jeder Handlung, die diese Tatbestandsmerkmale an sich aufweist, den Unrechtsgehalt der Nötigung zu verleihen. Es gibt im sozialen Leben kaum ein Verhalten, das sich nicht unter dem mehr oder weniger scharf determinierenden Einfluss darauf ggf. positiv oder negativ reagierenden Mitmenschen vollzieht (s.o. § 12 Rn. 14). Es muss also, um das strafwürdige Tatbild der Nötigung hervortreten zu lassen, eine Abscheidung vorgenommen werden zwischen den Handlungen, bei denen die Abnötigung eines bestimmten Verhaltens infolge ihrer sozialen Üblichkeit, ja Unentbehrlichkeit sich innerhalb der Grenzen des Erlaubten oder sogar Gebotenen bewegt, und denjenigen Handlungen, die diese Grenze überschreiten. Nur die Letzteren sind als Nötigung strafwürdig. Gesetzestechnisch ergeben sich für den Ausscheidungsprozess zwei Möglichkeiten.
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Die erste war in der alten Fassung des § 240 verwirklicht und bestand in der strikten Innehaltung des Regel-Ausnahme-Verfahrens bei der Ausscheidung rechtmäßiger Fälle aus dem Tatbestand: es musste zuerst der („geschlossene“) Tatbestand festgestellt und hierauf durch Ermittlung etwaiger Rechtfertigungsgründe die Gegenindizierung gewonnen werden. Dieses Verfahren, sonst zuverlässig, bot gerade bei der Nötigung erhebliche Schwierigkeiten, zwang auch zur Beschreitung vermeidbarer Umwege. Der Tatbestand musste zwangsläufig weit gefasst sein, wodurch sein Wert als Indiz der Strafwürdigkeit von vornherein verringert wurde. Auf der anderen Seite war der Katalog der zur Verfügung stehenden Rechtfertigungsgründe unzureichend. Die Folge war, dass entweder eine befriedigende Ausscheidung der rechtmäßigen Zwangshandlungen nicht immer durchgeführt werden konnte, oder dass man – an sich contra legem – die die Nötigung begründenden Mittel zu begrenzen suchte (Frank IV).
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Die zweite Möglichkeit ist von der heute geltenden Fassung des § 240 gewählt worden. Sie besteht darin, dass ein „offener“, als solcher nicht unrechtsindizierender Tatbestand gebildet wird (Abs. 1), der durch eine positive Feststellung der Verwerflichkeit „geschlossen“ werden muss. Damit ist für § 240 n.F. die schon häufig aufgestellte Forderung berücksichtigt, nur ein solches Verhalten als „tatbestandsmäßig“ zu erklären, das nicht „sozialadäquat“ ist, d.h. aus dem Rahmen sozial anerkannten oder gebotenen Handelns herausfällt. Ob die Lehre von der sozialen Adäquanz grundsätzlich berechtigt ist, ob sie praktikabler und mit größerer Rechtssicherheit ausgestattet ist als das bei den meisten Delikten angewandte Regel-Ausnahme-Verfahren, soll hier nicht untersucht werden. Dass es aber Deliktstypen gibt, bei denen sie mit Erfolg durchgeführt werden kann, ist unbestreitbar, und hierzu gehören in erster Linie Nötigung und Erpressung, bei denen der Gesetzgeber diese positive Prüfung der Sozialadäquanz angeordnet hat[60].
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Mit einer solchen „Verlagerung“ bei der Ermittlung der Tatbestandsmäßigkeit der Tat sind allerdings die Wege noch nicht aufgezeichnet, auf denen diese Ermittlung zu erfolgen hat. Theoretisch bestehen hier drei Möglichkeiten.
Zunächst die, dass ein bestimmter Grad der Gewalt oder eine bestimmte Gefährlichkeit der Drohung – schon isoliert betrachtet – die Verwerflichkeit der Tat begründet. Dieser Weg ist indes nicht gangbar, und an ihm war die Praktikabilität des § 240 a.F. (Drohung mit Verbrechen oder Vergehen) gescheitert. Denn er würde den Tatbestand zu schematisch einengen. Es gibt Fälle, die trotz Ausübung eines geringeren Grades von Gewalt oder Drohung mit einem an sich unverbotenen Verhalten verwerflicher erscheinen als andere, in denen die Gewalt oder das angedrohte Übel gravierender sind[61].
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Ebenso wenig ist es aber möglich, den Unrechtsgehalt der Tat allein aus der Verwerflichkeit oder Rechtswidrigkeit des Zweckes zu entnehmen. Die Erzwingung eines rechtswidrigen Verhaltens mit Gewalt oder Drohung ist zwar regelmäßig verwerflich[62]. Diese Fälle, in denen vielfach schon eine mittelbare Täterschaft hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens, jedenfalls aber eine Anstiftung vorliegt, reichen jedoch zur Umgrenzung der verbotenen Gewaltanwendung keineswegs aus.
Hiernach verbleibt als letzte Möglichkeit, die Verwerflichkeit der Tat aus der Verkoppelung, aus der Anstößigkeit des Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck zu entnehmen. Diesen Weg hat die geltende Fassung des § 240 beschritten.
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Rechtswidrig ist die Tat, wenn der Einsatz der Mittel zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist; nur die „gebundene Betrachtung“ führt zum Ziel. Dieses Erfordernis einer zusätzlichen, positiven Ermittlung der Rechtswidrigkeit gilt für beide Tatmittel; angesichts der Weite des Gewaltbegriffs (s.o. Rn. 11–20) kann auch die Anwendung von Gewalt die Rechtswidrigkeit nicht mehr indizieren[63]. Freilich wird damit die Bejahung der Nötigung stark ins Konkret-Normative verlagert. Indessen lassen sich auch für die gebundene Betrachtung bestimmte allgemeine Grundsätze aufstellen.
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Zunächst stellt sich die Frage, ob unter den angestrebten Zwecken neben der erstrebten Handlung, Duldung oder Unterlassung (s.o. Rn. 8) auch Fernziele, insbesondere eine Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, berücksichtigt werden können[64]. Dies widerspricht der Tradition des Strafrechts: der Heilige Crispinus konnte von der Anklage des Diebstahls nicht freigesprochen werden, weil er das gestohlene Leder zu Schuhen für die Armen verwerten wollte. Die Berücksichtigung von Fernzielen wird daher überwiegend abgelehnt[65]. Neuerdings gewinnt jedoch die Auffassung an Boden, dass sich Nah- und Fernziele nicht klar voneinander trennen lassen[66]. Nachdem BVerfGE 73, 206 nur noch eine Blockierungsgleichzahl dafür gefunden hatte, dass die Nichtberücksichtigung von Fernzielen jedenfalls nicht verfassungswidrig ist (krit. Starck JZ 87, 148), hat BVerfG 104, 92, 109 wegen Art. 8 und 2 Abs. 1 GG (Gebot schuldangemessenen Strafens) eine Berücksichtigung des „Kommunikationszwecks“ verlangt.
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Im Übrigen wird der Unrechtscharakter der Tat umso klarer sein, je deutlicher das Missverhältnis zwischen Mittel und Zweck in qualitativer Hinsicht ist. Wie auch sonst im Strafrecht heiligt bei der Nötigung der Zweck noch nicht das Mittel[67]. Bei erlaubtem Zweck sind entsprechend strengere Anforderungen an das Nötigungsmittel zu stellen[68]. Zweitens wird die Rechtswidrigkeit durch die Heterogenität von Mittel und Zweck indiziert; die willkürliche Verknüpfung zweier nicht zusammengehörender Lebensvorgänge durch den Täter wird in der Regel auch dann zur Bejahung der Nötigung führen, wenn eine isolierte Betrachtung weder Mittel noch Zweck anstößig erscheinen lässt, insbesondere bei der Verquickung öffentlicher Belange mit rein persönlichen Zwecken.
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So die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige zur Erreichung persönlicher Vorteile (OLG Hamburg HESt 2, 293) oder die Drohung, Vorgänge der Privatsphäre zu veröffentlichen (OLG München NJW 50, 714). Ferner: ein „Star“ verweigert kurz vor Aufgehen des Vorhanges den Auftritt, sofern nicht seiner höchst unbegabten Freundin eine wichtige Rolle zugewiesen wird: Nötigung; keine Nötigung dagegen, wenn die Auftrittsverweigerung erfolgt, um die Beseitigung einer Gefahrenstelle auf der