Steffen Stern

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren


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steht in Mord- und Totschlagsfällen nur eine einzige Tatsacheninstanz zur Verfügung. Die Verteidigung muss also stets auch mit Blick auf eine Revision zum BGH geführt werden. Ob die Verletzung von Verfahrensvorschriften später mit Erfolg gerügt werden kann, hängt vielfach davon ab, ob der Verteidiger den Vorgaben des BGH folgend schon in der Hauptverhandlung das vermeintlich fehlerhafte Vorgehen des Gerichts formell beanstandet und da, wo es erforderlich ist, „wirksam“ widersprochen hat. Das erfordert mitunter neben soliden Rechtskenntnissen auch Geistesgegenwart. Traurig aber wahr: Der Verteidiger kann noch in der Hauptverhandlung zum Schaden des Angeklagten Verfahrensrügen durch unzureichende Sachkunde oder Schlafmützigkeit ein für alle Mal verwirken, wenn er da, wo es geboten wäre, verspätet oder gar nicht interveniert. Die Verantwortung des Strafverteidigers ist in den letzten Jahren stetig gewachsen; das künftige Schicksal des Angeklagten liegt zunehmend in dessen Hand. Der Angeklagte ist mehr denn je von den Fähigkeiten seines Verteidigers abhängig. Oder anders gewendet, ist der Angeklagte vor allem in Schwurgerichtsverfahren mit den denkbar härtesten Sanktionsmöglichkeiten durch Wissens- oder Erfahrungsdefizite seines Verteidigers unmittelbar und existenziell bedroht.

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      Eine kritische Selbsteinschätzung des Anwalts ist nicht erst in seltenen Extremfällen mit vielen Toten und Verletzten gefordert. Die Wahrscheinlichkeit, als Anwalt mit der Pflichtverteidigung eines eiskalten Serienmörders, eines verblendeten Selbstmordattentäters, eines blindwütigen Amokläufers oder eines mehrfach mordverdächtigen Links- oder Rechtsterroristen betraut zu werden, ist ohnehin nahezu Null. Aber schon in ganz „normalen“ Mordfällen, die nicht unbedingt ein Höchstmaß an professioneller Distanz und Abgeklärtheit beanspruchen, sollte der erstmalig in einer Kapitalstrafsache beauftragte Verteidiger gewissenhaft prüfen, ob er sich den fachlichen Anforderungen und emotionalen Belastungen, die das Mandat mit sich bringt, in jeder Hinsicht gewachsen fühlt, wie umgekehrt auch ein Gericht bei der Auswahl des Pflichtverteidigers in Mord- und Totschlagsfällen über begründete Zweifel hinsichtlich der Qualifikation und praktischen Erfahrung eines Anwalts nicht einfach hinwegsehen sollte.

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      Da die auf § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gestützte Beiordnung des Verteidigers u.U. auch über die Haftentlassung des Tatverdächtigen hinaus fortgilt (§ 140 Abs. 3 StPO), sollten in Kapitalstrafsachen nach Möglichkeit in erster Linie zur Übernahme von Pflichtmandaten bereite Fachanwälte für Strafrecht als Pflichtverteidiger herangezogen werden. Man kann deshalb nur an die Richterschaft appellieren, in Mord- und Totschlagsverfahren möglichst keinen Gelegenheitsverteidiger beizuordnen, der unter Umständen mehr auf seinen eigenen Ruf bedacht sein muss als auf eine streng an den Interessen eines Beschuldigten orientierte Verteidigung seines Schutzbefohlenen. Neben einem fundierten Fortbildungsangebot und der Fachanwaltsqualifikation ist „Einsteigern mit Schwurgerichtsambitionen“ auf lange Sicht mehr Möglichkeit zu bieten, praktische Schwurgerichtserfahrungen an der Seite eines gestandenen Fachanwalts zu erwerben. Die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen hierfür wären freilich erst noch zu schaffen. Schwurgerichtsvorsitzende könnten den Anfang machen und mehr Großzügigkeit walten lassen, wenn in einem nicht ganz einfach gelagerten Mordverfahren die Bitte geäußert wird, einen zweiten, vom