Karl May

Im Reiche des silbernen Löwen IV


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Kluft oder Höhle von seinem Esel oder Kamele gestiegen. Dort wohnt er nun und verteidigt sie bis auf das Blut gegen jeden, der nicht seiner Meinung über den Himmel ist. Da es aber der Meinungen so viele und so verschiedene giebt, wie Individuen vorhanden sind, so herrscht zwischen ihnen allen eine Feindseligkeit, vor welcher wir selbst im Erdenleben erzittern würden. Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn. Die Folge dieser Selbstübergötterung ist, daß sich keiner dieser Götter an den andern wagt, weil er sonst von ihm herausgebissen wird. Das, Effendi, das ist dieser Himmel! Ueber ihm brennt die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit, die auf Raub ausgeht wie jener listige Fuchs und jene heimtückische Hyäne, welche selbst hier im Paradiese nur niedere Lurche oder erdfarbige Kerbtiere zum Fressen finden. Wie froh war ich, als ich meine Wanderung vollendet hatte! Ich fühlte mich wahrhaft selig, diese falsche Seligkeit verlassen zu können. Als ich das Thor wieder erreichte, warfen uns die dort stehenden Esel und Kamele Blicke des unendlichsten Neides zu, daß wir es uns gestatten durften, dieses entsetzliche Elend zu verlassen. Die Pächter aber strömten herbei, um mich ihr Paradies preisen zu hören. Ich teilte ihnen aber mit, daß ich den Menschen die volle Wahrheit sagen werde. Da erhoben sie ein lautes Wutgeschrei. Im Baume El Dscharanil begann es zu rauschen. Alle seine Augen waren drohend auf mich gerichtet. Die Köpfe schüttelten sich, und von den Lippen ertönte ein Geheul, daß das Seil El Milal vor mir zersprang. Die Esel und Kamele jenseits des Thores stimmten jammernd ein. Ich aber ritt davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen, gleichviel, ob ich für feig gehalten wurde oder nicht. Wer sich aus einem solchen Himmel herauszuretten weiß, der muß wohl Mut besitzen!«

      Er schlug bei diesen Worten die Hände zusammen, als ob er jetzt noch froh über diesen glücklichen Ausgang sei. Hierauf ging er einige Male in langsamen Schritten durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und fragte:

      »Hast du jemals geahnt, daß es so ein Paradies giebt, Effendi?«

      »Es giebt dieser Paradiese viele,« antwortete ich, mein Auge zu ihm erhebend. »Warum hast du damals nach keinem anderen gesucht?«

      »Welche Frage! Ich verstehe dich nicht!«

      »Du erzähltest mir ja, daß du vom Dschebel Din herab in ebenes Menschenland gekommen seist. Warum hast du deinen »Berg des Glaubens« überhaupt verlassen? Mußtest du das? Und wenn du es mußtest oder wolltest, was bewog dich da, das geistige Tiefland, die Ebene, die Wüste aufzusuchen, wo kein Gedanke in die Höhe strebt, sondern nur darnach, sich über die Fläche auszubreiten?«

      »Maschallah!« rief er erstaunt aus. »So, also so betrachtest du das, was ich erzählte?«

      »Natürlich! Wie anders denn?«

      »Ich habe von Menschen gesprochen!«

      »Gewiß! Aber besteht der Mensch nur aus seinem Körper? Sprechen wir einmal nicht von der Seele, sondern sagen wir, daß der Mensch aus Leib und Geist bestehe. Der Leib wird sterben, der Geist aber nicht. So lange wir sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Rücksicht nehmen, leben wir das wohlbekannte Erdenleben, welches ich als »das erste« bezeichnen will. Wer aber so stark gewesen ist, alle Rücksicht auf den Leib und seinen Zusammenhang mit dem Menschheitskörper zu überwinden und hinter sich zu werfen und sich nur noch als Geist zu betrachten, während der Leib für ihn gestorben ist, der lebt schon hier vor der Auflösung dieses letzteren ein anderes, neues, höheres Leben, welches ich einstweilen, aber auch nur einstweilen »das zweite« nennen will. Denn es giebt Menschen, deren Geist sich nicht zur Individualität gestaltet. Wenn diese Stufe für mich auch ein Leben ist, so muß ich sie das »erste« Leben nennen und die vorhin erwähnten beiden Stufen als »zweites« und »drittes Leben« bezeichnen. Nun sage mir, o Ustad, von welcher dieser Stufen aus, auf der du dich befindest, hast du mir jetzt soeben den allerniedrigsten Himmel beschrieben, den ich mir nur denken kann? Ich wollte, ich dürfte dir einmal einen andern Himmel, vielleicht den meinigen, beschreiben!«

      »Hast du ihn gesehen?«

      »Ja. Ganz so, wie du den von dir beschriebenen! Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden, wenn die Menschheit morgen oder übermorgen sagt:

      Was sprachst du von Ruinen und Gräberfeldern? Dem Geiste sind sie unbekannt! Was er einst mit der Hand des Körpers baute, war für den Körper, aber nicht für ihn. Es war ja nur das Erdenabbild dessen, was er für sich im Geisterreich gebaut. Und dieser hochgelegene Bau ist ewig. Sein Abbild mag zerfallen, das Urbild aber trifft kein Zahn der Erdenzeit. Wenn du mit deinen körperlichen Augen dein Paradies in Trümmern und im Tode liegen sahst, so breitet sich in Himmelshöhe über ihm das meine aus, und alles, was bei dir in Schutt zerfallen ist, das blieb im Originale des Meisters mir erhalten. Und so, wie jedes Werk in meinem Himmel edler ist als in dem deinigen, so sind auch alle Menschen besser als die deinen. Du richtest sie. Ich habe nichts zu richten. Vielleicht verzeihst du ihnen. Doch ich verzeihe nicht. Warum? Man hat mir nichts gethan! Vor meinem Paradiese steht jede Feindschaft still. Sie wagt sich nicht herein. Und weil sie mich also nicht treffen kann, so giebt es für mich nichts, was ich verzeihen dürfte, so gern ich es auch möchte.«

      »So hat es ganz gewiß den Baum El Dscharanil für dich niemals gegeben!«

      »Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dort stehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse. Doch schaute ich ihn anders an als du. Das Reich des Geistes hat die größte Aehnlichkeit mit dem Reiche der sichtbaren Natur. Es giebt hier wie dort keine Entwicklung, die nicht von unten nach oben zu gehen hätte. Ihre Aufgabe ist die Trennung von der niederen Materie und die Gestaltung zum selbständigen, sich frei bewegenden Einzelwesen. Lächle nicht, wenn ich dir sage, daß jedes, aber auch jedes geistige Gebiet sein Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich besitzt! – Du wirst das sofort und überall erkennen, wenn du nur die richtigen Augen dafür öffnest.«

      »Also auch das Gebiet der öffentlichen Presse?« fragte er schnell, indem sein Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung annahm.

      »Ja, auch dieses! Der Boden, also die Materie ist gegeben. Es existiert keine Felsen- oder Gesteinsformation und keine Erdbeschaffenheit, die nicht auch hier in diesem geistigen Reiche vorhanden wäre. Oder hörst du nicht die sogenannte öffentliche Stimme von den Spitzen hoher Berge, aus den tiefsten Thälern, aus finstern Schluchten, aus sandiger Oede, auf sonniger Flur und aber auch aus häßlichen Sümpfen erklingen? Giebt es nicht zahllose Blätter, in denen nur die Materie zu sprechen hat und nur der Stoff zum Worte kommt? Aber bald regt sich das Leben, zunächst das niedrige, welches durch sämtliche Ordnungen zu steigen hat, um sich von dem Stoffe zu erlösen. Du siehst geistige Flechten und Moose erscheinen, dann Farne, deren Gestalt auf spätere Palmen hoffen läßt, freundliche Gräser und Kräuter, duftend blühende Sträucher und früchtetragende Bäume. Diese alle aber, so lieb, so gut, so nützlich sie auch sein mögen, sie haben es doch nicht vermocht, den Boden zu verlassen, auf dem das Blatt, die Zeitung, gegründet worden war. Sie klammern sich mit ihren Wurzeln in ihm fest und müssen das ja auch thun, weil es die Absicht des Verlegers ist, grad diesen Boden für sich zu kultivieren.«

      »Und aber die Zoologie der Presse?« fragte der Ustad.

      »Sie kann und darf nicht fehlen, denn nur in ihren Erscheinungen schreitet die Befreiung von der Materie in rapider Weise fort. Auch hier beginnt die Entwicklung mit den niederen Lebewesen. Ich sehe winzige Goldkäferchen ihre geistige Nahrung aus Blumenkelchen ziehen und leuchtende Glühflügler um urweltliche Gedanken schwirren. Freundliche Schmetterlinge gaukeln von Leserin zu Leserin. Ein niemals ruhender Ameisenfluß trägt Wort um Wort und Satz um Satz zusammen, und Bienen summen überall, um