schließlich. „Wir haben nicht gesehen, dass Sie im Wagen waren. Sonst hätten wir den Unfug vorhin sicher nicht gemacht.”
Das Mädchen sah mich an. „Aber warum denn nicht?” erwiderte sie ruhig, mit einer überraschend dunklen Stimme. „So schlimm war das doch gar nicht.”
„Schlimm nicht, aber auch nicht ganz anständig. Der Wagen da läuft ungefähr zweihundert Kilometer.”
Sie beugte sich etwas vor und steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels. „Zweihundert Kilometer?”
„Genau hundertneunundachtzig Komma zwei, amtlich abgestoppt”, erklärte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz.
Es entstand eine Pause.
„Wunderbares Wetter”, sagte ich endlich, um das Schweigen zu unterbrechen.
„Ja, herrlich”, erwiderte das Mädchen.
„Und so milde”, fügte Lenz hinzu.
„Sogar ungewöhnlich milde”, ergänzte ich.
Es entstand eine neue Pause. Das Mädchen musste uns für ziemliche Schafsköpfe halten; aber mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein.
Köster und Binding kamen zurück. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden. Er schien einer dieser Autonarren[24] zu sein, die ganz selig sind, wenn sie irgendwo einen Fachmann finden, mit dem sie reden können.
„Wollen wir zusammen essen?” fragte er.
„Selbstverständlich”, erwiderte Lenz.
Wir gingen hinein. Unter der Tür blinzelte Gottfried mir zu und nickte zu dem Mädchen hinüber.
Wir folgten den andern. Sie saßen schon am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Sie brachte außerdem eine große Flasche Kornschnaps als Einleitung mit.
Binding erwies sich als wahrer Sturzbach von einem Redner. Es war erstaunlich, was er alles über Automobile zu sagen hatte. Als er hörte, dass Otto auch Rennen gefahren hatte, kannte seine Zuneigung überhaupt keine Grenzen mehr.
Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. Das Gesicht war schmal und blass, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich; – aber ich dachte mir nichts weiter dabei.
Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war völlig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glänzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfällen los und beherrschte mit Binding zusammen den Tisch. Lenz schlug sich plötzlich vor die Stirn: „Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum!”[25]
„Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag?” fragte das Mädchen.
„Ich”, sagte ich. „Ich werde schon den ganzen Tag damit verfolgt.”
„Verfolgt? Dann wollen Sie also nicht, dass man Ihnen gratuliert?”
„Doch”, sagte ich, „gratulieren ist was anderes.”
„Also alles Gute!”
Ich hielt einen Augenblick ihre Hand in meiner und spürte ihren warmen, trockenen Druck. Dann ging ich hinaus, um den Rum zu holen.
Binding vertrug den Rum nicht. Nach dem zweiten Glas merkte man es schon. Er schwankte in den Garten hinaus. Ich stand auf und ging mit Lenz an die Theke. Er verlangte eine Flasche Gin[26]. „Großartiges Mädchen, was?” sagte er.
„Weiß ich nicht, Gottfried”, erwiderte ich. „Habe nicht so drauf geachtet.”
Er betrachtete mich eine Weile mit seinen irisierenden[27], blauen Augen und schüttelte dann den glühenden Kopf. „Wozu lebst du eigentlich, sag mal, Baby?”
„Das wollte ich auch schon lange mal wissen”, antwortete ich.
Er lachte. „Das könnte dir so passen! So leicht wirds einem doch nicht gemacht. Aber jetzt werde ich zunächst mal herauspolken[28], wie das Mädchen zu dem dicken Autokatalog[29] draußen steht.”
Er folgte Binding in den Garten.
Wir drei blieben allein in der Wirtsstube.
Draußen sangen Lenz und Binding das Lied vom Argonnerwald[30]. Neben mir sprach das unbekannte Mädchen; – es sprach leise und langsam mit dieser dunklen, erregenden, etwas rauhen Stimme. Ich trank mein Glas aus.
Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Sie stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz.
Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand. „Glauben Sie, dass er fahren kann?” fragte ich.
„Ich denke schon – ”
„Hoffentlich geht es gut”, sagte ich. „Kann ich morgen einmal bei Ihnen anrufen und hören, wie es geworden ist?” fragte ich.
Sie antwortete nicht gleich. „Wir haben mit unserer Trinkerei doch so eine gewisse Verantwortung dafür”, sagte ich weiter. „Besonders ich mit meinem Geburtstagsrum.”
Sie lachte. „Nun gut, wenn Sie wollen. Westen 2796.”
Ich schrieb mir die Nummer draußen gleich auf.
II
Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riss die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte.
Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Cafe International und das Versammlungslokal der Heilsarmee[31] dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande.
Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße besprengt wurde, ich leerte pfeifend meine Taschen aus; – Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer. Patrice Hollmann. Ein merkwürdiger Vorname, – Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen?
Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bücher. Anrufen? Vielleicht, – vielleicht auch nicht. Tagsüber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Köster. Was man herankommen lässt, will man halten. Und halten kann man nichts —
Nebenan stand die Tür offen. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der