Александр Иличевский

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке


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hockte sich mit aufgeknöpfter Schutzweste neben die Bahre. Er zog an der Zigarette und schob das Wachstuch ein wenig zurück. Blies den Rauch aus. Spuckte seitlich aus. Zog das Tuch wieder hoch.

      Der Zwergmajor hielt seinen Helm im Arm wie eine Schüssel. Er kurbelte an seinem Funkgerät, betätigte den Kippschalter. Hielt es ans Ohr.

      Wadja hörte:

      »Flieder, bitte kommen. Hier Weide. Mache Meldung. Einen haben wir erwischt. Einen Weißstrumpf*. Ja, eine Frau. Jawohl, keine Verluste. Ja. Ja. Im Gluboki Pereulok*, Tscherednitschenko … Jawohl.«

      Ein Soldat führte Nadja die Treppe herunter und aus dem Haus.

      Sie erkannte Wadja nicht. Langsam, wie im Schlaf, die Hand an den Hals gelegt, ließ sie den Blick über die Soldaten schweifen und stakste davon.

      Wadja rannte ihr nach. Ging neben ihr her, rauchte in die hohle Faust.

      Die Passanten drehten sich um, wenn sie Nadjas rundes, totes Gesicht sahen, die Schlichtheit ihres Leides.

      Am Abend kehrten sie zurück. Betrunkene Soldaten wankten durch die Straßen. Von der tödlichen Gefahr erregt, zerstörten sie alles, was ihnen in den Weg kam. So ließen sie ihre Wut aus, die Wut auf sich selbst, über die eigene tierische Angst in diesen Tagen.

      In der Nähe, am Filmmuseum, plünderten OMON-Soldaten* eine Trinkbude.

      Einer von ihnen stellte ein paar Flaschen Wodka der Marke Wildes Tier auf dem Gehweg ab und fiel trunken taumelnd über sie her. Zwei andere pfiffen und schrien, er solle damit aufhören.

      Nadja bekam eine Ohrfeige ab.

      Wadja wehrte sich kaum, er duckte sich, wich den Schlägen halbherzig aus, murmelte:

      »Schlagt drauf, Jungs, schlagt nur, aber erschlagt mich nicht, sachte, seid so gut.«

      Der OMON-Soldat kämpfte wie eine Mühle – langsam, weit ausholend schwang er seine Fäuste und Beine. Es tat nicht weh. Irgendwann plumpste er auf Wadja wie ein schwerer Sack und fing an, ihn zu würgen. Seine weißen, leeren Augen sahen nichts.

      Außer Atem gekommen[33] ließ er von Wadja ab, griff sich die klirrenden Wodkaflaschen und wankte seinen Leuten hinterher.

      Nadja, die Unterlippe eifrig vorgereckt, half Wadja auf, führte ihn auf den Dachboden. Sie legte ihn hin, schmierte Taubendreck auf seine Schürfwunden und Prellungen.

      Dann sah sie um sich. Sprang auf. Rieb verbissen die Blutspuren von der Wand am Dachfenster, mit Kies, Sand und Taubendreck, und zerkratzte sich dabei die Hände.

      In der Nacht kamen die verschreckten Tauben zurück.

      Gegen Morgen wurde es frostig, und an der Wand, zu der sich Nadja gedreht hatte, bildete sich ein kleiner Reiffleck.

      Als sie aufwachte, tastete sie auf dem Bauch nach Matisse und schaute lange auf den nadeligen Stern, der in der schwelenden Morgendämmerung erglüht war.

      XVII

      Weder damals noch später unterschieden sie bei diesen Ereignissen Recht und Unrecht. Sie standen auf der Seite des Leides.

      Überhaupt drang alles, was mit ihnen und um sie herum geschah, nicht bis in ihr Inneres vor, war etwas ihnen Fremdes, Aufgezwungenes. Alles Schlechte löste aus irgendeinem Grund bei ihnen Schuldgefühle aus. Das betraf in erster Linie Nadja. Wadja rebellierte von Zeit zu Zeit und schlug aus. Doch jedes Mal fühlte er sich am nächsten Morgen von Scham zerdrückt.

      Wadja liebte die abstrakte Idee einer vom Volksgeist angezettelten Revolte. Koroljow hörte Wadja aufmerksam zu, hing derweil lächelnd irgendeinem eigenen besonderen Gedanken nach. Wadja fragte sich nicht, wer an dem Aufstand teilnehmen und wer ihn anführen würde und warum das Militär ihn eigentlich nicht sofort niederschlagen würde. Solche Details wusste Wadja ja selbst nicht. Er malte die Revolte aus mit Segmenten von Ungesagtem und Verweisen auf Unbekanntes. Besonders lange erzählte er von der Odyssee eines meuternden, mit mächtigem Geschütz ausgestatteten und uneinnehmbaren Schiffes, das unterwegs war, um – von der Peripherie zum Zentrum – im Menschen den gerechten Zorn zu entfachen.

      Genauso sprach er auch über Ufos – ein weiteres Thema, das als mächtiges Nichts seine Fantasie peinigte. Neben vielen Fragen, die das Schweigen vermehrten, gab es bei Wadja auch einige Thesen:

      a) Unser Staat verfügt über eine Mega-Geheimwaffe von derartiger Schlagkraft, dass, nachdem die Welt von ihr erfahren hat, überall das fette Leben Einzug halten wird. b) Bei der Revolte ist der Moment zu nutzen, wenn die Geschäfte geplündert werden (Mitzunehmen sind nur lange haltbare Lebensmittel wie Grieß, Salz, Konserven, Öl). c) Mit den Vorräten möge man sich in die Wälder von Brjansk aufmachen, bei Liwny, und nach den Orten suchen, an denen die Partisanen im Krieg ihre Stellungen hatten. Man möge die einstigen Lager und Erdhütten beziehen und dort auf die Zukunft warten. d) Die endgültige Zukunft war für Wadja untrennbar mit einer außerirdischen, vielleicht gar himmlischen, jedenfalls nicht näher definierten Großmacht verbunden, die sich mit den Führungsriegen der Revolte vereinigen würde, die zu diesem Zeitpunkt Begleiterscheinungen wie Finsternis und Gewalt bereits überwunden hätten.

      Koroljow, dem klar war, dass er mit seinen aufgeklärten Gedanken kaum weiterkam als Wadja mit seinen barbarischen, antwortete folgendermaßen:

      »Und ich sag dir, ein äußerer Aufstand bringt nichts. Der Aufstand muss im Inneren sein, nach innen gerichtet, und so durchschlagend, dass sich die Gedärme geradebiegen. Nur dann haben wir die Chance, zu unseren eigenen Kindern zu werden, zu Kindern unserer Idee: Wenn wir uns trauen, andere zu werden.

      Die Straße

      XVIII

      Von da an hatten sie die Presnja in ihr Herz geschlossen. Dieses Moskauer Stadtviertel erwies sich als segensreicher Ort. Die Straßen wandelten sich zwar immer mehr zum Oberdeck eines Luxusliners (überall eröffneten teure Geschäfte und Restaurants, entlang der Uferstraße schossen Casinos, Bars, Lasterhöhlen aus dem Boden – da zeigte sich der von den staatlichen Behörden in dieses Viertel gelockte fette Prunk), dennoch gab es, tief drinnen, ein geräumiges Unterdeck für die dritte Klasse, eine Ladefläche, einen Kesselraum.

      Schlafplätze fanden sich fast überall.

      Sie schliefen im Planetarium, das wegen Umbau geschlossenen war. In der Kuppel klafften Löcher, durch die funkelnder Schnee herabrieselte. Im kelchförmigen Auditorium türmten sich die herausgerissenen Stuhlreihen. Über dem Podium schwebte der stromlose, lädierte Sternenhimmel, der einem gigantischen Tannenzapfen ähnelte. Mäuse raschelten in den schneeverwehten Ecken zwischen vergessenen Nebelfleckkarten.

      Oder sie schliefen in ausrangierten Postzügen, die am Weißrussischen Bahnhof auf den Entladegleisen herumstanden. Ein wunderbarer Ort. Sie übernahmen das Heizen der Samoware in den Personenzügen, sammelten vor der Lagerhalle Kohlestückchen auf und brachten diese dann auf einem klapprigen Wägelchen zu den Schaffnern in die Waggons – für einen Laib Brot, für bahneigenen Weißzucker, für ein Kilo Kartoffeln.

      Oder sie schliefen im Heizraum des Museums der Revolution von 1905*. Einer der Museumswächter, der nach einem komplizierten Dienstplan zur Schicht antrat[34], dessen Berechnung Koljanytsch selbstlos übernahm, war ihnen zugetan wie ehrbaren Museumsbesuchern.

      Diese Nächte waren interessant und gut für Nadja. Wenn der Alte wieder Dienst hatte, kam Koljanytsch sie suchen, denn er wusste, dass der ein anständiges Publikum brauchte.

      Fiks, so hieß der Wachmann, sah aus wie ein Tragejoch und verfügte über schauspielerisches Talent. Nachdem er seine Ration runtergekippt hatte, wartete er ungeduldig, bis auch seine Gäste in Fahrt kamen[35], dann ließ er sie die Schuhe ausziehen und scheuchte sie zur Führung.

      Zahnlos vor sich hin nuschelnd führte er sie durch die Museumsräume, immer wieder erfasst von brummelnder Verzückung. Wie ein Kind, das versucht, die Redeweise der Erwachsenen nachzuahmen, entbrannte er selbstvergessen im revolutionären Eifer einer Museumsführerin, die sie nicht kannten.

      Schlapp